Korallenriffe wie das Great Barrier Reef vor der australischen Küste zählen neben den tropischen Regenwäldern zu den artenreichsten Ökosystemen der Welt. Doch die Riffe sind unter Druck: Die globale Erwärmung macht ihnen schwer zu schaffen. Bei Wassertemperaturen über 30 Grad beginnen die Algen, mit denen die Korallen in Symbiose leben, toxische Moleküle zu produzieren. Die Korallen stossen sie dann ab; es kommt zur sogenannten Korallenbleiche, da das weisse Kalkskelett der Korallen ohne die bunten Algen sichtbar wird.
Korallenriffe können eine solche Korallenbleiche für eine bestimmte Zeit überleben und sich danach wieder erholen. Folgen die Bleichen einander aber immer schneller wie in letzter Zeit, können die Riffsysteme sich nicht mehr vollständig regenerieren. Erst im vergangenen Jahr zeigte etwa ein Bericht der australischen Regierung, dass mehr als 90 Prozent des Great Barrier Reef aufgrund anhaltender Hitzewellen eine Korallenbleiche erlitten.
Zusätzlich setzt den Riffen die Versauerung der Ozeane, der «kleine böse Bruder der Klimaerwärmung», zu. Die Meere nehmen etwa ein Drittel des Kohlendioxids (CO2) auf, das zusätzlich in die Atmosphäre gelangt, was ihren pH-Wert von 8,1 auf 7,8 drücken wird. Wenn der pH-Wert unter 7,7 sinkt, wachsen Korallenriffe nicht mehr weiter. Der steigende Säuregehalt führt vor allem zu einem Niedergang der komplexeren Korallen zugunsten einfacherer Korallen. Und in Zonen mit erhöhtem CO2-Gehalt gibt es massiv weniger junge Korallen.
Wie es um die Korallen steht, weiss Ulrike Pfreundt sehr genau. Und die Meeresbiologin will dem Schwund dieser bunten, vielfältigen Welt nicht tatenlos zusehen, sondern etwas dagegen unternehmen. watson sprach mit ihr.
Frau Pfreundt, wie ernst ist die Lage?
Ulrike Pfreundt: Bei einer weiteren Erwärmung von 1,5 °C bis 2050 – also einem Szenario, das ohnehin kaum mehr einzuhalten ist – werden 85 bis 99 Prozent der Korallenriffe verschwinden. Bei 2 °C Erwärmung werden es mehr als 99 Prozent sein.
Aber was ist denn eigentlich so schlimm daran, wenn es diese Riffe nicht mehr gibt?
Für jemanden aus einem Land ohne Meereszugang ist das womöglich gar nicht so klar. Die Korallenriffe sind enorm wichtig für die Biodiversität im Meer – etwa ein Drittel aller Meerestierarten ist von Korallenriffen abhängig.
Es geht also um die Artenvielfalt.
Absolut, aber nicht nur. Viele Tiere im Korallenriff sind immobil, haben aber bewegliche Körperteile. Sie stehen in stetiger Konkurrenz um Platz und Nahrung zueinander und müssen sich zudem gegen Fressfeinde, Pilze oder Bakterien wehren. Deshalb haben sie ein Arsenal von Stoffen entwickelt, die auch pharmakologisch interessant sind.
Korallen als marine Apotheke?
Sozusagen. Einige Korallen produzieren Substanzen, die als potenzielle Medikamente gegen Krebs eingesetzt werden könnten. Auch antivirale Wirkstoffe dürften sich in diesem natürlichen marinen Labor finden lassen. Die Forschung sucht gezielt nach solchen aktiven Substanzen – wir Menschen können solche Stoffe nicht selber generieren, wir können sie nur finden.
Die Riffe schützen auch vor Erosion.
Genau. Millionen von Menschen leben weltweit an Küsten, die durch Korallenriffe geschützt sind. Vor allem ihre Funktion als natürliche Wellenbrecher ist nicht zu unterschätzen. Riffe nehmen Energie der Wellen auf und schwächen sie ab. Tropische Lagunen existieren überhaupt nur dank Riffen. Das Beispiel Florida – wo die Riffe bereits weitgehend kaputt sind – zeigt, dass Sturmfluten ohne Riffe höher sind. Deren Schutzfunktion ist übrigens besonders wichtig, wenn der Meeresspiegel steigt.
Ist der Klimawandel mit Temperaturanstieg und zunehmendem CO2-Gehalt des Meerwassers das einzige Problem für die Korallen?
Leider nicht. Auch der Eintrag von landwirtschaftlichen Abwässern ins Meerwasser kann zu Problemen führen. Ein Beispiel dafür sind die regelrechten Todeszonen im Golf von Mexiko, die durch Überdüngung, daraus folgendem Algenwachstum und dann Sauerstoffmangel entstehen. Hier ist es der Mississippi, der die nährstoffreichen Abwässer aus dem gesamten Mittleren Westen der USA in den Golf verfrachtet. Auf überdüngten Korallenriffen gewinnen nach einiger Zeit die Algen die Oberhand und ersticken die Korallen. Stellen Sie sich eine schöne, bunte Magerwiese vor, auf der nach der Düngung nur noch Löwenzahn wächst.
Sie kämpfen mit Ihrem Start-up rrreefs.com gegen den Schwund der Korallenriffe. Wie?
Wir stellen den Lebensraum für die Korallen wieder her, mit Materialien, die nicht sofort wieder durch das saure Meerwasser angegriffen werden. Unsere künstlichen Riffe stellen eine Sofortmassnahme dar, die dann aber längerfristig den Kern für neue natürliche Korallenstrukturen bilden können.
Welche Materialien verwenden Sie für die künstlichen Riffe?
Es handelt sich um umweltfreundliche Tonsteine, die wir mit einem 3-D-Drucker herstellen. Das hat den Vorteil, dass sich beliebige Oberflächenstrukturen, Strömungseigenschaften und Hohlräume formen lassen, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Korallen-Polypen sich daran anhaften können. Zudem können alle möglichen Riff-Lebewesen in den Hohlräumen Unterschlupf finden.
Sie haben bisher zwei Projekte in den Weltmeeren initiiert, ein erstes vor der karibischen Küste Kolumbiens und ein zweites in den Malediven. Was sind Ihre Erfahrungen?
Beide Projekte sind bisher zufriedenstellend verlaufen und laufen nach wie vor weiter. In den Malediven haben wir im Dezember 2019 knapp hundert Tonziegel mit zwölf unterschiedlichen Oberflächenstrukturen installiert. Zwar hatten wir dann wegen der Corona-Pandemie eine Datenlücke, aber die im April 2021 erhobenen Daten waren durchweg positiv.
Das heisst?
Die von uns konzipierten Strukturen und das dafür verwendete Material eignen sich offenbar gut als künstliches Riff. Wir konnten nach 15 Monaten 30 neu angesiedelte Korallen pro Quadratmeter verzeichnen – das ist ein sehr guter Wert. Zum Vergleich: Auf natürlichen Riffen in den Malediven, die nach einer Bleiche wiederbesiedelt wurden, fand man lediglich 7,4 Korallen pro Quadratmeter. Die höchsten entsprechenden Werte, die aus dem Roten Meer stammen, liegen bei 72 Korallen pro Quadratmeter.
Das klingt gut. Aber grosse Riffe können Sie doch nicht mit dem 3-D-Drucker herstellen!
Nein. Die Module müsste man in einem Gussverfahren produzieren, doch dies ist kompliziert, weil diese Bausteine Hohlräume enthalten. Überdies muss die richtige Porosität gewährleistet sein; sie hat einen grossen Einfluss auf die Eignung des Materials.
Billig wird das wohl nicht sein. Wie soll sich die Sache denn finanzieren?
Wir arbeiten darauf hin, die Module lokal zu produzieren und zum Selbstkostenpreis an lokale Gruppen abzugeben, die sich dem Erhalt der Riffe verschrieben haben und unsere Standards akzeptieren – etwa die Erhebung von Daten.
Und wie kann man das skalieren?
Denkbar wäre etwa, dass Regierungen – aber auch Firmen – Riff-Zertifikate erwerben. Diese könnten als Nachhaltigkeits-Nachweis dienen, also als Nachweis dafür, dass eine Firma oder eine Regierung durch ihr Handeln einen positiven Einfluss auf die Ozeane ausübt. Ein solches Zertifikat dürfte aber auf keinen Fall als Freibrief missbraucht werden, um andernorts ein Riff zerstören zu dürfen.