Israel will den See Genezareth mit entsalztem Meerwasser retten
Nach jahrelangen Vorbereitungen hat Israel am 23. Oktober ein bahnbrechendes Projekt eingeweiht: Die Wasserbehörde Mekorot hat damit begonnen, entsalztes Wasser in den See Genezareth im Norden des Landes zu leiten, wie die Times of Israel berichtet. Der See ist das grösste Süsswasserreservoir des Landes, doch sein Wasserstand ist nach jahrelangen Dürreperioden gefährlich gesunken. Mit dem weltweit ersten Versuch, einen natürlichen Süsswassersee mit aufbereitetem Meerwasser aufzufüllen, will Israel den See retten.
Der See Genezareth, der auch «See von Tiberias» oder «Galiläisches Meer» genannt wird und auf Hebräisch «Kinneret» heisst, dürfte manchen aus der Bibel bekannt sein: Hier soll Jesus übers Wasser gelaufen sein. Der Kinneret ist mit 212 Metern unter dem Meeresspiegel der tiefstgelegene Süsswassersee der Erde. Israel entnimmt in der Regel jährlich hunderte Millionen Kubikmeter Wasser aus dem See, um die lokalen Gemeinden zu versorgen und Wasser ins Zentrum und den trockeneren Süden des Landes zu transportieren.
Herzstück des israelischen National Water Carrier
Der See ist damit das Herzstück des israelischen nationalen Wassertransportsystems, des 1964 eingeweihten und danach ausgebauten National Water Carrier. Dieser besteht aus einem System riesiger Rohre, offener Kanäle, Tunnel, Reservoirs und grosser Pumpstationen. «Der Kinneret ist unser zentrales Wasserreservoir. Israel verfügt nur über wenige natürliche Quellen, also ist dieser See sowohl emotional als auch strategisch von grösster Bedeutung», sagte Mekorot-Generaldirektor Yeheskel Lifschitz der Jüdischen Allgemeinen.
Umgekehrte Richtung
Der Name des neuen Projekts – «Reverse Carrier» – spielt auf den National Water Carrier an. In der Tat wird das kostbare Nass nun in die umgekehrte Richtung fliessen: Das aus Entsalzungsanlagen in Aschdod, Hadera und anderen Küstenstädten des Mittelmeers gewonnene Wasser wird nun über dieselbe Route nach Norden gebracht. Es gelangt über die Ein-Ravid-Quelle und den saisonalen Zalmon-Bach in den See.
Firas Talhami, Leiter Region Nord bei Mekorot, sagte gegenüber der «Jüdischen Allgemeinen», dies werde den Zalmon wieder zu einem ganzjährigen Wasserlauf machen und auf diese Weise die Pflanzen- und Tierwelt wiederbeleben. «Dies ist ein historisches Ereignis, das es weltweit noch nie gegeben hat», erklärte Talhami, der sagte, die Zufuhr von entsalztem Wasser werde mindestens für die nächsten sechs Monate aufrechterhalten.
Ein halber Zentimeter pro Monat
Derzeit sind zwei Rohre in einem Abstand von einigen hundert Metern verlegt, doch gegenwärtig ist nur eines davon in Betrieb. Es ist für einen geringeren Wasserdurchfluss ausgelegt und kann 1000 Kubikmeter Wasser pro Stunde in den See leiten. Das zweite Rohr könnte bei Bedarf noch mehr Wasser in den Kinneret leiten – Mekorot könnte den Durchfluss auf 1500 oder gar 2000 Kubikmeter pro Stunde erhöhen, je nach Niederschlagsmenge in diesem Winter und der Menge an überschüssigem entsalztem Wasser, das zur Verfügung stehen wird. Nachdem zusätzliche Infrastruktur installiert worden ist, sollen es schliesslich sogar 15'000 Kubikmeter pro Stunde sein.
Laut Talhami wird der derzeitige Zufluss den Pegel des Sees pro Monat um 0,5 Zentimeter anheben. Dies ist auch bitter nötig – am vergangenen Montag lag der Pegel des Sees bei 213,33 Metern unter dem Meeresspiegel. Das ist nur 33 Zentimeter über der sogenannten unteren roten Linie – dem niedrigsten Punkt, bis zu dem der Wasserstand sinken darf, bevor mit Schäden für das Ökosystem gerechnet werden muss. Darunter liegt die schwarze Linie; eine Schwelle, unter der dauerhafte Schäden drohen.
Sinkender Wasserpegel
Der Wasserspiegel des Kinneret sinkt seit Jahren. Für Einheimische und Touristen ist dies gut sichtbar: Grosse Flächen aus Sand, Felsen und Erde, die normalerweise weit unter Wasser liegen, liegen nun frei, und Rettungsschwimmerstationen, die einst von Wellen umspült wurden, befinden sich jetzt weit im Landesinneren. Entsprechend prägen Kampagnen wie «Israel trocknet aus» das Bewusstsein der Israelis.
«In den heissen Sommermonaten verliert der See täglich etwa einen Zentimeter Wasser durch Verdunstung. Wir hoffen, dass der Zufluss von entsalztem Wasser einen stabilen Wasserstand für Anwohner und Besucher gewährleistet», sagte Idan Greenbaum der Jüdischen Allgemeinen. Greenbaum ist Vorsitzender der Vereinigung der Städte, die am See liegen.
Vorreiter bei der Meerwasser-Entsalzung
Die Idee für das Projekt Reverse Carrier kam gegen Ende mehrerer katastrophaler Dürrejahre zwischen 2013 und 2018 auf, als der Wasserstand des Sees einen historischen Tiefstand erreichte. Da bereits geplant war, entsalztes Wasser über Rohrleitungen an Gemeinden im nahe gelegenen Unteren Galiläa zu liefern, beschlossen die Behörden, auch den Kinneret an das System anzuschliessen.
Möglich wurde die Verwirklichung dieser Pläne – die zuvor als unerschwinglich teuer galten – nur dadurch, dass Israel als Vorreiter bei der Umwandlung von salzigem Meerwasser in Trinkwasser mittlerweile über wachsende Entsalzungskapazitäten verfügt und die Entsalzungskosten zu senken vermochte. Das Land entsalzt derzeit genug Wasser, um den Grossteil seiner eigenen Bevölkerung und auch einige Nachbarländer zu versorgen. Dies verringert den Druck auf den See Genezareth und die unterirdischen Grundwasserleiter.
Allerdings stellt sich die Frage, ob der Zufluss von entsalztem Meerwasser in den See schädliche Auswirkungen auf die lokalen Ökosysteme haben könnte. Von Wissenschaftlern durchgeführte Tests haben ergeben, dass dies nicht der Fall sein sollte. Freilich gibt es nach wie vor Bedenken, das entsalzte Wasser könnte die lokale Ökologie beeinträchtigen, indem es den relativ hohen Salzgehalt des Sees verdünnt. (dhr)
