Glücklich ist nicht, wer hat, was er will, sondern wer nicht begehrt, was das Schicksal ihm verwehrt, heisst es im alten Rom, und weiter, das Glück sei ein Glas, das glänze und dabei zerbreche – Glück und Glas, wie leicht bricht das. Ein römischer Geschichtsschreiber der Spätantike bringt das Glück mit dem Rad in Verbindung. Nach einer Drehung der Rota fortunae könne ein Glücklicher noch am selben Abend der Unglücklichste sein.
Auf der Nordseite des Basler Münsters treffen wir an der Galluspforte auf eine Ikone mittelalterlicher Kirchenbaukunst und Frömmigkeit, das älteste romanische Figurenportal im deutschsprachigen Raum, errichtet 1185, noch heute ein Ereignis. Darüber eine monumentale Rosette, weniger fromm, weil zu einem Glücksrad ergänzt – als ob Erlösung eine Glückssache wäre statt wie eh christlicher Lohn für Entsagung und gute Werke.
Ein Glücksrad ohne Fortuna? Wo bleibt sie denn? Nichts deutet auf die unberechenbare Glücksgöttin hin. Erschien ihr der exponierte Standort als zu heikel, so dass sie Abstand nahm? Die reich ausstaffierte Pforte demonstriert nämlich, wie die Menschen auch ohne Fortüne in den Himmel kommen: im Bogenfeld der thronende Weltenrichter, flankiert von Petrus und Paulus, im Türsturz das Lehrstück von den Klugen und Törichten Jungfrauen. Was soll da eine Glücksgöttin?
Auf dem Glücksrad neun Männer und eine Frau: auf der rechten Seite, dem Verderben ausgeliefert, zunächst ein Baumeister, den Rumpf mirakulös gebeugt, gefolgt von zwei kopfüber stürzenden Figuren, nach ihnen ein Kind, zuunterst ein Handwerker mit Maurerkelle.
Ahnt der Schlummernde sein bevorstehendes Glück nicht? Hat er ein Leben lang danach gesucht und jetzt, wo es in Griffnähe ist, schläft er? Gleicht er Odysseus in jenem berührenden Gedicht Schillers, als der Held nach zehn Jahren Irrfahrt an den Strand seiner Heimat gespült wird, erwacht und sein lang ersehntes Vaterland nicht erkennt? – Zuoberst auf dem Glücksrad thront in aller Regel ein König. Nicht so in Basel. Die 2016 ersetzte Figur im Zenit des Rads trägt keine Krone, sondern einen Hut mit wuchtiger Krempe.
Ob die Menschen beim Anblick dieses Glücksrads schon vor Jahrhunderten ähnlich empfanden wie wir heute? Gibt es so etwas wie anthropologische Grundkonstanten? Nicht selten schweigen die Quellen gerade über Dinge, von denen wir besonders gern mehr wissen möchten.
Sandstein ist nicht Chromstahl. Am roten Buntsandstein der Galluspforte gehen achthundert Jahre nicht spurlos vorüber. Einiges ist im Lauf der Zeit auszubessern oder zu ergänzen. 1885 werden am Glücksrad acht der zehn Figuren, die übrigens zwischenzeitlich eine barocke Gestalt bekommen haben, erneuert, vier davon nach Zeichnungen neugestaltet. Dreidimensionale Kopien nach zweidimensionalen Vorlagen? Der Not gehorchend. Bis 2016 erfolgt auch der Ersatz der zwei restlichen Figuren. Keine einzige Figur des Glücksrads am Basler Münster ist original.
Was sich original erhalten hat, wird im Museum zugänglich gemacht; Kopien am Münster ermöglichen eine Vorstellung vom ursprünglichen Eindruck. Auf diese Weise wird die Kunstfertigkeit der Bauleute vor 800 Jahren dokumentiert, zugleich der Umgang mit ihren Werken im Lauf der Zeit. Ein kulturhistorischer Glücksfall, passend zum Thema.
Kopien gelten meist wenig. Es handelt sich hier nur um eine Kopie. Auch das stürzende Kind am Glücksrad des Basler Münsters, entstanden um 1770, ist bloss eine Kopie, doch glücklich, wer sie zu schaffen vermochte, glücklich, wer sie betrachtet.
Als hätte unsere letzte Stunde geschlagen oder als müssten wir mit einem Paukenschlag erweckt werden, setzt donnernd der Eingangschor der Carmina Burana ein. Fortuna wird besungen, Imperatrix Mundi – die Herrscherin der Welt, und dabei verglichen mit dem Mond, dem wandelbaren. Zwei unbekannte Schreiber stellen um 1230 auf 119 Pergamentseiten einen Codex von Liedern zusammen, 1803 nach seinem Fundort benannt, dem Kloster Benediktbeuern in Bayern, daher der Name Carmina Burana – Lieder von Beuren. Ob die Handschrift tatsächlich dort entstand, ist ungewiss.
Im Gegensatz zum Herkunftsort der Handschrift steht fest: Die szenische Kantate, die Carl Orff 1936 mit 24 Liedern aus diesem Codex komponiert, wird in der Folge weltweit zum meist aufgeführten Chor- und Orchesterwerk. Für diese hinreissende Verbindung aus mittelalterlichen Texten und archaisch anmutender Musik des 20. Jahrhunderts reicht ein bisschen Glück nicht aus. Dazu braucht es eine Sternstunde.
Authentisch – die abgenutzte Zuschreibung hat heute Hochkonjunktur, nicht nur auf den sogenannten Mittelaltermärkten. Bei dieser Liedersammlung aus dem 11., 12. und beginnenden 13. Jahrhundert hingegen ist sie berechtigt. Die Texte unbekannter Autoren romantisieren und idealisieren nicht, beschreiben vielmehr das pralle Leben: hier Anmut und Verehrung, dort Begierde und Perversität; hier der Zauber der Natur, dort der Lärm der Schenke.
Im ird’schen Jammertal glücklich zu sein, so richtig, das heisst: a) permanent, b) rundum, gelingt nur wenigen. Glücklich, wer zumindest Glück hat in der Liebe. Davon erzählt der Roman eines unbekannten französischen Autors vor 1300 mit dem Titel Roman de la poire – Roman von der Birne. Der Name stammt von der zentralen Episode, in der die Dame mit ihrem Geliebten eine Birne teilt, die sie vorher mit ihren Zähnen geschält hat. Liebesglück kennt viele Ausdrucksformen.
Wunderbar, wie huldreich und elegant, gleichzeitig wie kraftvoll und entschieden die Königin ihren Geliebten zu sich emporzieht. In der linken Hand hält sie bereits die Krone für ihren Auserwählten. Derweil dreht Fortuna mit stoischer Gelassenheit am Rad, scheinbar unbeteiligt.
So oder so, die Welt und wir Menschen sind, wie wir eben sind, nur sehen wir uns nicht immer gleich. Achten wir nur auf unsere Mängel und Fehler, macht uns das unfroh, melancholisch und verleitet zum Moralisieren. Dazu neigt an seinem Lebensende auch Giovanni Boccaccio (1313–1375), bedeutender Dichter und Humanist der frühen Renaissance.
Ein moralisierendes Spätwerk, das hundert Jahre nach seinem Tod in Paris neu aufgelegt wird, zeigt ein Schicksalsrad, das berühmte Männer und Frauen samt und sonders stürzen lässt. Speziell: Ein Aufstieg ist in diesem Programm nicht vorgesehen. Auf beiden Seiten des Schicksalsrads herrscht Einbahn. Runter mit euch allen!
Selbst wenn ein König mit gefalteten Händen stürzt, wenn ein anderer direkt in den Schoss seiner Angebeteten fällt, ja selbst wenn die Fürnehmsten der Fürnehmen für die Stürzenden inständig beten: Der Sturz ist nicht aufzuhalten, der Fall unumkehrbar. Bildkomposition und Malkunst bemerkenswert, doch dieser Gegensatz! Der Inhalt düster, fatal, beklemmend, die Farben hell, bunt, lebensfroh – aberwitzig.
Ein Blick in den Bilderhimmel der Glücksräder zeigt: Dieses Motiv trifft den Nerv menschlicher Existenz, über Jahrhunderte hinweg. Die drei folgenden Beispiele deuten die Vielfalt der Darstellungen an.
Ungewöhnlich: John Lydgates Schicksalsgöttin, in Hermelinmantel und rotem Umhang, braucht vier Gehilfen, um das Rad zu drehen. Selbst Fortuna schafft es nicht allein, die vornehmen Häupter gleich im halben Dutzend in den Abgrund zu stürzen und ähnlich vielen gleichzeitig wieder zum Aufstieg zu verhelfen.
Ein Esel greift mit seinen Vorderhufen nach dem Mond und macht damit dem Werk Narrenschiff alle Ehre. Der abstürzende Esel hat den Oberkörper eines Narren, der aufsteigende Mensch umgekehrt einen Eselskopf. Meist bewegt sich das Schicksalsrad im Uhrzeigersinn, hier jedoch umgekehrt. Zudem wird das Rad ausnahmsweise nicht von Fortuna gedreht, sondern über ein Seil von der starken Hand Gottes im Himmel.
Der Anblick des monumentalen hölzernen Speichenrads im Gemälde von Burne-Jones lässt den Atem stocken. Auch die übergrosse Erscheinung von Fortuna, die das Schicksalsrad leichthändig dreht, verblüfft. Wie eine Traumwandlerin, den Blick gesenkt, nimmt sie, selber wunderschön, die absteigenden Männer und deren Schönheit nicht zur Kenntnis. Erneut dieses verstörende Unbeteiligtsein der Schicksalsgöttin, als ginge sie alles nichts an, was sie auslöst.
Auf dem Rad zuoberst ein Sklave, erkennbar an den gesprengten Ketten an beiden Füssen. Er stösst einen König mit Krone und Szepter hinunter, dieser wiederum einen mit Lorbeer bekränzten Dichter. Wir glauben unseren Augen nicht zu trauen: der Sklave über dem König, eine politische Utopie? Doch auf dem Schicksalsrad ergeht es beiden gleich. Ist der Dichter, von dem nur noch der Kopf zu sehen ist, bereits vom Rad gefallen?
Wien, ein warmer Tag im Mai 1947. Noch sind Österreich und Wien zwei Jahre nach Kriegsende besetzt von den Alliierten, nach demselben Muster in Besatzungszonen aufgeteilt wie Deutschland und Berlin. Im Roman Das Café ohne Namen versetzt uns Robert Seethaler in diese Lebenswelt im Zeichen des Aufbruchs.
Einige Hundert jubelnde Wiener und Wienerinnen stehen im Prater und sehen zu, wie sich das von den Bomben skelettierte und nun frisch renovierte Riesenrad endlich wieder zu drehen beginnt. Wird das ächzende Ungetüm mit seinen zarten Verstrebungen die Holzwaggons mit ihren winkenden und lachenden Insassen tragen?
Das Rad verkörpert steten Wandel. Einförmig wechselnd, wird das Unten zum Oben – und umgekehrt. Das wissen die Menschen nach 1947 auch in Wien. Doch vorerst zählt vor allem die eine Richtung: hinauf! Das Riesenrad im Prater wird für viele zum Symbol des Wiederaufbaus.
1968 weitet den Blick auf die eine Welt. Eine internationale Bewusstseinsrevolution ist im Gang. Das wird deutlich im Text Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte des Rappers Max Herre (*1973), der als Dreiundzwanzigjähriger zurückschaut, dankbar für die umsorgende Liebe seiner Mutter. Dabei stellt er sich ein Kind vor, das gleichzeitig mit ihm auf die Welt kam, 1973, in Kambodscha.
1973, Deutschland, Kambodscha, gleiche Zeit, aber nicht gleicher Ort, nicht gleiches Glück, nicht gleiches Schicksal. Er wär‘ wie ich jetzt dreiundzwanzig. Der empathische Gedanke bleibt haften. Er wär‘ wie ich … Konjunktiv. Erzählt wird von zwei Kindern und ihren Müttern, stellvertretend. Gemeint sind alle Kinder, alle Mütter, alle Menschen. Glück endet nicht am Rand des eigenen Glücks, sondern weist darüber hinaus. Das beste Glück ist das mitmenschliche Glück.
Im Unterschied zu Glück ist Solidarität nicht an Ort und Zeit gebunden. Selbst nachträgliche Solidarität bleibt wirksam als Teil unseres historischen Gewissens, individuell und universell. Allmächtig sind wir nicht, ohnmächtig aber auch nicht. Was wir tun können: das Menschenmögliche. Vielleicht lässt sich da und dort dem Glück etwas nachhelfen – mit vereinten Kräften.