Es ist eine aussergewöhnliche Reisegruppe, die im Dezember 1902 in Zürich zusammengefunden hat: die geflohenen Habsburger Leopold Ferdinand und seine Schwester Luise sowie ihre beiden Geliebten Wilhelmine Adamovic, eine ehemalige Prostituierte, und André Giron, der vormalige Sprachlehrer von Luises fünf Kindern in Dresden. Der Belgier ist einen Tag nach den anderen in der Limmatstadt angekommen.
Um die gemeinsame Flucht zu vertuschen, greifen die Getürmten zu einer ausgeklügelten Finte. Ein Freund von ihnen gibt im Namen von Luise ein Telegramm in Brüssel auf: Darin benachrichtigt sie – angeblich! – den sächsischen Hof ihres verlassenen Gatten, dass sie definitiv nicht mehr nach Dresden zurückkehren wolle. Der Inhalt des gefälschten Telegramms verbreitet sich in ganz Europa und schlägt – gemäss der sonst um Zurückhaltung bemühten «Neuen Zürcher Zeitung» – ein «wie eine Bombe»; denn bislang vermutete man Luise noch immer in Salzburg und bestimmt nicht in Brüssel, wo ihr Liebhaber André Giron herkommt.
Um ihre Spuren noch besser zu verwischen, entscheiden Luise, Leopold und ihre Begleiter, nach Genf weiterzureisen. Am 15. Dezember beziehen sie vier Zimmer im Hotel d’Angleterre. Die Getürmten führen in Genf ein sorgenfreies Vorweihnachtsleben mit Spaziergängen in der Stadt, während im Hintergrund die Drähte heisslaufen. Erst nach zwei Tagen Ungewissheit findet die sächsische Geheimpolizei heraus, dass sich die entwichene Kronprinzessin nicht in Brüssel aufhält, sondern in Genf. Sofort reist eine neue Delegation aus Sachsen mit dem Kriminalbeamten Arthur Schwarz dorthin und quartiert sich ebenfalls im Angleterre ein.
Polizist Schwarz will mit seinen Leuten die Kronprinzessin kidnappen. Doch die Genfer Polizei erfährt von der Absicht und bringt den Plan zum Scheitern, denn Genf duldet keine geheimen Aktionen einer ausländischen Polizei. Daraufhin beschwert sich die Schweiz offiziell beim Königreich Sachsen wegen dieser Missachtung der Schweizer Souveränität. Der sächsische Kriminalbeamte Arthur Schwarz muss also von einer Entführung absehen; doch die scharfe Überwachung lässt er sich nicht nehmen. Er fängt die Post für die royalen Gäste ab, besticht Zimmermädchen mit üppigen Trinkgeldern und hält auf handgefertigten Grundrissen genau fest, welche Zimmer Durchgänge haben und vor allem, wo die Betten stehen: Jenes der Kronprinzessin steht direkt neben jenem von Giron, was er abermals als Beweis für den Ehebruch auslegt!
Erzherzog Leopold ärgert sich über die Anwesenheit des lästigen Kriminalbeamten aus Sachsen, deshalb erkundigt er sich beim Hotelier, ob er gleich das ganze Hotel mieten könne, um Arthur Schwarz loszuwerden. Doch der Hotelier lehnt das Begehren mit Blick auf die anderen Gäste ab.
Weil die Entführung scheitert und Ehebruch in Genf als Motiv für eine Verhaftung nicht ausreicht, beschreiten die Sachsen den rechtlichen Weg: Sie bezichtigen Luise des Diebstahls der sächsischen Kronjuwelen im Wert von 800'000 Mark und beantragen deshalb einen internationalen Haftbefehl. Doch diese Anschuldigung ist frei erfunden, denn Luise führt viel weniger Werte mit sich, als sie in Dresden zurückgelassen hat. So wird die beantragte internationale Fahndung nach wenigen Tagen wieder aufgehoben.
Nach einer ersten Notlüge, wonach Luise erkrankt sei, lässt sich die Affäre nicht mehr länger unter dem Deckel halten. Am 22. Dezember erscheint das offizielle Bulletin des sächsischen Königshofs: «Ihre kaiserliche und königliche Hoheit, die Frau Kronprinzessin, hat in einem anscheinend krankhaften Zustande seelischer Erregung Salzburg plötzlich verlassen und sich unter Abbruch aller Beziehungen zu ihren hiesigen Angehörigen ins Ausland begeben.»
Die offizielle Verlautbarung soll den anhaltenden Gerüchten ein Ende setzen. Aufschlussreich ist die Formulierung «anscheinend krankhaften Zustande seelischer Erregung» – Luise wird pathologisiert, auch wenn das Wort «anscheinend» das Krankhafte etwas herabmildert. Insofern stellt das Bulletin ein Meisterstück politischer PR dar, mit dem man sich viele Auswege offenlässt.
Die Journaille stürzt sich auf die Story: Eine Kronprinzessin und ein Erzherzog türmen, weil sie Leute aus dem Volk lieben; zudem ist sie noch schwanger. Das ist Boulevardstoff vom Feinsten, auch für klassische Zeitungen, die sich zu dieser Zeit mehr und mehr für solche Themen öffnen. Luise, Leopold und André Giron empfangen Journalisten aus ganz Europa und sogar aus Amerika und geben bereitwillig Auskunft, zum Beispiel den bekannten Zeitungen «Le Figaro» aus Paris, den «Münchner Neusten Nachrichten» oder dem «New York Herald».
Leopold bekräftigt dabei, dass er möglichst bald frei sein und seine Geliebte heiraten wolle. Luise hofft, «die Ehe zu lösen», worauf sie Giron heiraten wolle, denn ihre Liebe zu ihm sei «viel zu innig». Es lässt sich nicht verharmlosen: Die zuerst geheim gehaltenen Affären sind eine öffentliche Peinlichkeit sondergleichen, das Königshaus von Sachsen blamiert sich in ganz Europa. Der Adel in ganz Europa empört sich, während die politische Linke einmal mehr den Niedergang der degenerierten Monarchie aufkommen sieht. Die «Neue Freie Presse aus Wien» analysiert messerscharf: «So radikal und ohne Scheu hat sich der Bruch der Leidenschaft mit der Tradition noch nie in einem Königshaus vollzogen. Man spürt förmlich diesen Kampf zwischen alter und neuer Zeit.»
Insofern ist der Skandal viel mehr als ein Regelverstoss von zwei überspannten Adligen; er steht für den Kampf zwischen dem Gestern und dem Morgen. In der damaligen Zeit wimmelt es von Auf- und Umbrüchen: Die Industrie produziert immer mehr und immer günstiger; die Globalisierung nimmt ihren Lauf; Frauen fordern ihre Rechte ein; Auto, Elektrizität und Telefone beschleunigen den Alltag; Wissenschaft und Kunst zertrümmern das alte Weltbild. Der Mensch der damaligen Zeit fühlt sich wie in einem rasenden Zug, aber er weiss nicht, wie die Weichen gestellt sind! Viele Menschen stehen verunsichert zwischen «alter und neuer Zeit». Dass Luise und Leopold ihren Bruch mit der Tradition so öffentlich austragen, ist vor diesem Hintergrund zu sehen.
Wem seine Idee mit dem Cliffhanger war das? Geht natürlich gar nicht!
Werde Sie dennoch entführt? Das Liebesleben von Frau Prinzessin ist aber der Hammer, stammt das Ungeborene vom Sprachlehrer? Was macht nun Herr Wölfling beruflich? Bankangestellter? Biznezz Angel? Baut er eine Rakete in Penisform?