Psychiater hüten sich ja vor Ferndiagnosen. Bei Donald Trump sind wir aber quasi live dabei, sehen fast täglich seine Auftritte im Fernsehen. Würden Sie sagen, dass Trump ein Narzisst ist?
Reinhard Haller: Eine Diagnose kann ich nicht stellen. Aber man darf das Verhalten einer öffentlichen Person natürlich analysieren. Und da muss ich sagen: Es ist schwer, das Verhalten von Donald Trump anders zu beschreiben als klassisch narzisstisch. Auch wenn ich mich als Psychiater nicht leichtfertig äussere – hier ist es sehr auffällig. Zu diesem Schluss kommt übrigens auch seine Nichte Mary Trump, die Psychologin ist und ihn aus nächster Nähe kennt.
Was sind denn die typischen Merkmale, an denen Sie dieses narzisstische Verhalten bei Trump festmachen?
Ich beschreibe das gerne mit einer Art Merkhilfe – die fünf grossen «E» des Narzissmus: Egozentrik, Eitelkeit, Empathiemangel, Entwertung anderer und Empfindlichkeit.
Gehen wir sie durch – und beginnen bei der Egozentrik.
Der Narzisst stellt sich selbst immer in den Mittelpunkt. Was er denkt, ist richtig, nur seine Interessen zählen. Das zeigt sich bei Trump sehr deutlich – «Make America Great Again» ist letztlich eine sehr ich-bezogene Vision, in der andere Sichtweisen keinen Platz haben.
Wie äussert sich die Eitelkeit?
Der Narzisst ist nicht im klassischen Sinn selbstverliebt, weil er gar nicht wirklich lieben kann. Vielmehr ist er süchtig nach Anerkennung, nach Bewunderung – wie ein Abhängiger, der nie genug von seiner Droge bekommt. Diese Droge heisst: Applaus, Aufmerksamkeit, Bewunderung. Davon lebt Donald Trump.
Was verstehen Sie unter Empathiemangel?
Narzissten fehlt es an Mitgefühl. Das zeigt sich etwa in Trumps Umgang mit Geflüchteten oder in der Art, wie er ohne Rücksicht auf Verluste Menschen entlässt. Da ist keinerlei Empathie erkennbar.
Wie zeigt sich die Entwertung anderer?
Wer nicht mit dem Narzissten übereinstimmt, wird abgewertet, herabgewürdigt, lächerlich gemacht. So hat Trump beispielsweise den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski im Weissen Haus abgekanzelt. Doch auch ehemalige Gefolgsleute hat er öffentlich beleidigt und vorgeführt, wenn ihm ihr Verhalten nicht mehr gefallen hat.
Dann wäre da noch die Empfindlichkeit
Das ist gewissermassen die Achillesferse des Narzissten. Trotz seiner starken Fassade ist er extrem empfindlich. Schon kleine Kränkungen führen zu überzogenen Reaktionen. Er verzeiht nie und merkt sich jede noch so kleine Kritik. Trump reagiert überzogen und beleidigend auf persönliche Angriffe oder Widerspruch. Er ist zwar nach aussen stark und dominant, aber innerlich sehr verletzlich und unsicher – daher braucht er die Fassade, die ihn schützt und stabilisiert.
Trump ist ein verletzlicher Mensch?
Narzissten wirken nach aussen gross und unerschütterlich, aber sie haben eine sehr dünne Haut. Jede kritische Bemerkung trifft sie tief – ein Regentropfen fühlt sich für sie wie ein Peitschenhieb an. Sie können keine andere Meinung stehen lassen, ohne sich angegriffen zu fühlen. Um sich wieder zu stabilisieren, entwerten sie andere. Deshalb entwerten sie andere so schnell – um sich selbst wieder zu stabilisieren.
Ist Elon Musk ebenfalls ein Narzisst?
Ich würde sagen, er gehört eher in den autistischen Bereich, zeigt aber in Teilen auch narzisstische Merkmale. Er selbst sagt ja von sich, dass er am Asperger-Syndrom leidet – also an einer Form der Autismus-Spektrum-Störung. Das ist zwar ein anderes Krankheitsbild, es kann damit aber durchaus ein sehr ausgeprägtes, narzisstisch wirkendes Verhalten einhergehen.
Wie wird man eigentlich zum Narzissten? Ist das genetisch bedingt oder wird das sozial geprägt?
Das ist die klassische Frage nach Anlage oder Umwelt. Es gibt bestimmte genetische Dispositionen. So wurde beispielsweise festgestellt, dass Narzissten im Gehirn eine geringere Dichte an sogenannten Spiegelneuronen aufweisen. Diese Neuronen sind für Empathie zuständig – also dafür, dass ich spüren kann, wie Sie sich fühlen. Bei narzisstischen Persönlichkeiten sind diese Spiegelneuronen nachweislich weniger aktiv oder sogar kaum vorhanden. Dazu kommen dann die Einflüsse aus dem sozialen Umfeld. Und da gibt es zwei Hauptrisikofaktoren in der Erziehung.
Die wären?
Einerseits emotionale Vernachlässigung: Wenn ein Kind zu wenig emotionale Zuwendung erfährt – also nicht genug Zärtlichkeit, Nähe, Aufmerksamkeit -, dann bleibt in ihm ein dauerhaftes Bedürfnis nach Anerkennung zurück. Solche Menschen sind dann ihr Leben lang auf der Suche nach Bestätigung, weil ihnen dieses Grundgefühl von «Ich bin wertvoll» fehlt. Das Gegenteil kann aber genauso problematisch sein: übermässige Idealisierung. Wenn ein Kind ständig überhöht wird, entwickelt es ein übersteigertes Selbstbild.
Sowohl Musk als auch Trump berichten selbst, dass sie sich von ihren Vätern emotional vernachlässigt fühlen. Das ist also kein Zufall?
Nein, das ist ganz typisch. Beide weisen die klassische Konstellation auf, wie narzisstische Persönlichkeitszüge entstehen können. Bei Trump wissen wir, dass seine Mutter mit erheblichen psychischen Problemen zu kämpfen hatte. Der Vater war sehr dominant, stark leistungsorientiert und emotional distanziert. Seine Nichte Mary Trump beschreibt in ihrem Buch eindrücklich, wie abwertend der Vater mit Donald umgegangen ist. Wenn man das liest, kann man fast so etwas wie Mitleid mit dem kleinen Donald empfinden – weil man erkennt, dass hinter dem Verhalten eine sehr verletzte Kindheit steckt.
Ähnlich kann es einem gehen, wenn man Musks Biografie liest und erfährt, wie sein Vater ihn psychisch und physisch misshandelt hat.
Diese Kindheitserfahrungen prägen die gesamte spätere Entwicklung. Sie fördern eine Persönlichkeitsstruktur, die stark nach aussen hin auf Erfolg, Bewunderung und Kontrolle ausgerichtet ist – als eine Art Schutzschild gegen das innere Gefühl der Unsicherheit. Kommt dann der öffentliche Erfolg, verstärkt dieser das Muster zusätzlich. Je mehr Anerkennung eine solche Persönlichkeit bekommt, desto stärker wird das narzisstische Verhalten. Das sehen wir auch bei anderen politischen Führungspersönlichkeiten weltweit – etwa beim russischen Staatschef.
Wladimir Putin ist auch ein Narzisst?
Ja, aber ich würde sagen, der Fall von Putin ist etwas anders gelagert – auch wenn das aus der Ferne natürlich schwer zu beurteilen ist. Mein Eindruck ist, dass Putin nicht schon immer narzisstisch war. Früher, in seinen Anfangsjahren, wirkte er noch weniger ich-bezogen, weniger kontrolliert, teilweise sogar gelassen, konnte in der Öffentlichkeit auch lächeln. Mit zunehmendem Erfolg kam nicht nur die öffentliche Bestätigung, sondern er nahm auch narzisstische Züge an. Und wie es bei Narzissten typisch ist, begann er dann, kritische Stimmen aus seinem Umfeld zu entfernen. Der ganze Machtapparat scheint nur noch in Zustimmung zu funktionieren. Teilweise übertreffen seine Berater ihn sogar in ihrer Linientreue. Das verstärkt wiederum den Narzissmus des Machthabers.
Trump, Putin, Musk: Kommt Narzissmus bei Männern eigentlich häufiger vor als bei Frauen?
Ja, Narzissmus tritt tatsächlich häufiger bei Männern auf. Das war lange Zeit sehr deutlich – man sprach früher vom Verhältnis 80 zu 20. Inzwischen nähert sich das Verhältnis etwas an. Wir sind heute bei ungefähr 60 zu 40. Aber: Der männliche Narzissmus ist oft unangenehmer. Er ist kampforientiert, auf Überwindung ausgerichtet, aggressiver. Der weibliche Narzissmus hingegen – ohne jetzt ein Klischee bedienen zu wollen – ist oft kokettierend. Er äussert sich eher in der Frage: «Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?» Also eher in einer weichen, selbstbezogenen Form.
Sie haben 2013 das Buch «Die Narzissmusfalle» veröffentlicht. Damals haben wir uns zum Gespräch getroffen und Sie prognostizierten: Es würden viele Zeichen der Zeit dafürsprechen, dass wir immer narzisstischer werden. Jetzt sind über zehn Jahre vergangen. Hatten Sie recht?
Ja, leider. Diese Prognose hat sich als richtig erwiesen. Die Pandemie war zwar ein Stück weit ein «Anti-Narzissmus-Virus»: Sie hat uns unsere Verletzlichkeit vor Augen geführt und die Empathie gefördert. Aber nach der Pandemie hat sich der gesellschaftliche Trend zum Narzissmus noch verstärkt, teils sogar überkompensatorisch.
Warum wird die Gesellschaft narzisstischer?
Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Ein kluger Satz stammt von Stephen Hawking, dem berühmten Astrophysiker: Er sagte kurz vor seinem Tod, das Überleben der Menschheit hänge davon ab, ob sie ihre Empathie bewahren könne. Denn in allem anderen – Intelligenz, Logik, sogar Kreativität – werden uns Maschinen überlegen sein, sofern sie es nicht schon sind. Aber Empathie, also dieses «Ich fühle, was du fühlst» – das bleibt einzigartig menschlich. Leider ist genau diese Fähigkeit gefährdet.
Weshalb?
Die digitale Kommunikation ersetzt zunehmend das persönliche Gespräch. Emojis und Likes sind keine echten Gefühlsäusserungen. Die sozialen Medien fördern eine narzisstische Selbstdarstellung und reduzieren die Tiefe zwischenmenschlicher Begegnung. Dazu kommt das gesellschaftliche Bild von «Coolness»: Man soll stark, unabhängig, unberührbar wirken. Verletzlichkeit, Bedürftigkeit, Nähe – all das wird hinter einer Maske versteckt. Und je mehr wir diese Fassade pflegen, desto empathieloser und desto narzisstischer werden wir.
Leben wir im Zeitalter des Narzissmus?
Früher galt Narzissmus in vielen Religionen als Sünde – als Streben nach gottgleicher Grösse. Sigmund Freud beschrieb ihn dann Anfang des 20. Jahrhunderts als psychische Störung. Und heute ist er in vielen Bereichen ein gesellschaftliches Ideal geworden: Man will sich selbst darstellen, sich inszenieren, sich als perfekt präsentieren. Das ist ein Ausdruck des Zeitgeists und eine gefährliche Entwicklung.
Warum wählen Menschen vermehrt narzisstische Politiker?
Für viele Menschen ist es faszinierend, wenn jemand auftritt, der sich über alles hinwegsetzt. Jemand, der sagt: «Gesetze gelten nur für die Schwachen», «Kritik ist Fake News», «Ich baue eine Mauer, anstatt zu diskutieren». Solche vermeintlich klaren, autoritären Lösungen beeindrucken viele – gerade auch Menschen, die selbst gern so auftreten würden, es aber nicht können. Was mich bei den letzten US-Wahlen aber wirklich überrascht hat: Trump-Wähler gab es in allen gesellschaftlichen Schichten – auch unter Intellektuellen und wissenschaftlich gebildeten Menschen. Das hat meine Theorie, dass Narzissmus vor allem in bestimmten Milieus verfangen würde, ins Wanken gebracht.
Nun sind die Narzissten politisch an der Macht. Wie sollte man mit ihnen umgehen, wenn man als Nichtnarzisst mit ihnen verhandeln oder zusammenarbeiten muss?
Wenn man mit einem Narzissten zu tun hat, braucht es zwei Dinge: aufrichtige Anerkennung und ein gesundes Selbstbewusstsein. Man sollte ihm nicht in den Rücken fallen, aber auch nicht zum «Jubelknecht» werden. Emmanuel Macron macht das aus meiner Sicht ziemlich gut: Er begegnet Trump mit Charme, Respekt, klarer Haltung – und dabei spürt Trump, dass er es mit jemandem zu tun hat, der auf Augenhöhe agiert.
Macron scheint auch gewisse narzisstische Züge aufzuweisen. Dass ihn die Franzosen «Sonnenkönig» nennen, kommt nicht von ungefähr.
Das kann gut sein. Narzissmus ist auch nicht per se schlecht. Wir alle brauchen ein gewisses Mass an Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen und Begeisterungsfähigkeit – auch, um andere Menschen zu inspirieren. Problematisch wird es nur dann, wenn das Mass nicht mehr stimmt. Zu wenig narzisstische Anteile führen zu einem übersteigerten Minderwertigkeitsgefühl; zu viel davon hingegen zu emotionaler Kälte und sozialer Entsolidarisierung. Und genau das sehen wir derzeit bei vielen Spitzenpolitikern auf der Weltbühne.
Sie haben einmal gesagt, dass der Ukraine-Krieg möglicherweise nur durch einen anderen Narzissten gelöst werden könnte. Wie meinen Sie das?
Ja, das denke ich tatsächlich. Am Anfang des Ukraine-Kriegs war der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei Friedensverhandlungen sehr aktiv. Und er hat sinngemäss gesagt: «Man muss eine Lösung finden, bei der Putin sein Gesicht nicht verliert.» Das war eine kluge Einschätzung. Ein Narzisst wird niemals zugeben, dass er eine falsche Entscheidung getroffen hat. Eine Einigung ist nur möglich, wenn man ihm das Gefühl gibt, dass er sie aus einer Position der Stärke heraus trifft – nicht aus Schwäche.
Dann dürfen wir also hoffnungsvoll sein, wenn Trump nun im Ukraine-Krieg Frieden stiften will?
Ich erachte es tatsächlich als möglich, dass Trump in der Lage ist, unter Narzissten einen Deal mit Putin zu machen. Zumindest spricht er dessen Sprache. Leider aber hat sich das bisher nicht so entwickelt. Im Gegenteil: Es scheint eher ein Wettbewerb unter den Narzissten zu entstehen – wer ist der Mächtigste, der Dominanteste?
Einerseits verstehen Narzissten, dass der andere leicht zu kränken ist, andererseits wollen sie sich selbst als überlegen darstellen.
Genau so ist es. Der eigene Narzissmus steht für jeden Narzissten im Vordergrund. Es geht darum, sich selbst als wichtiger zu erleben als den anderen. In einer Beziehung zwischen zwei Narzissten beginnt es oft mit gegenseitiger Bewunderung – man hält den anderen für besonders grossartig und damit für gut genug, um sich mit ihm abzugeben. Das funktioniert eine Weile ganz gut, aber irgendwann wird der andere zum Konkurrenten, den man übertreffen muss. Dann kippt das Verhältnis: Es kommt zu Konkurrenz, Rivalität, oft auch zur Trennung oder zum Zerwürfnis.
Also könnten auch Trump und Musk irgendwann aneinandergeraten?
Durchaus. Ich beziehe mich da gern auf den alten griechischen Mythos, aus dem die Figur des Narziss stammt. Und da liegt ein gewisser, fast zynischer Trost für alle, die unter solchen Persönlichkeiten leiden: Am Ende des Narziss-Mythos steht der Absturz. (bzbasel.ch)
Er will Deals abschliessen, das ist das einzige, das er versteht. Und Deals abschliessen bedeutet für ihn, dass er gewinnt, dass alle Vorteile bei ihm liegen.
Darum wird es keinen "Deal" mit Putin geben, denn der will auch gewinnen.
Das Mitgefühl scheint mir so wichtig und es muss dringend gepflegt werden.