Jedes Jahr erleiden weltweit rund 100 Millionen Menschen einen Schlaganfall. Für 6,7 Millionen von ihnen verläuft er tödlich. Umso wichtiger ist es, Hochrisikopatienten frühzeitig zu erkennen. Ein internationales Forschungsteam hat nun herausgefunden, dass die Netzhaut dabei helfen kann. Kein Wunder, denn die winzigen Blutgefässe in der Netzhaut sind denen in unserem Gehirn erstaunlich ähnlich.
Die neue Studie ist in der wissenschaftlichen Zeitschrift «Heart» veröffentlicht worden, die mit «The BMJ» verbunden ist. Darin analysierten die Wissenschaftler Augenfotos von mehr als 45'000 Teilnehmern der britischen Biobank. Mithilfe künstlicher Intelligenz untersuchten sie dann 118 verschiedene Merkmale von Blutgefässen in der Netzhaut – sozusagen «Fingerabdrücke» der Netzhaut unterschiedlicher Personen, die mit der Dichte, der Komplexität, der «Schlängelung», den Winkeln und der Dicke der Blutgefässe zusammenhängen.
Über einen durchschnittlichen Zeitraum von 12,5 Jahren erlitten 749 der Studienteilnehmer einen Schlaganfall. Sie waren mit grösserer Wahrscheinlichkeit älter, männlich, Raucher, Diabetiker und übergewichtig. Überdies hatten sie einen höheren Blutdruck und einen niedrigeren HDL-Cholesterinspiegel («gutes» Cholesterin). Nach Berücksichtigung dieser und anderer bekannter Schlaganfall-Risikofaktoren konnten die Wissenschaftler aus den 118 «Fingerabdruck»-Merkmalen 29 messbare Merkmale identifizieren, die mit dem Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, korrelierten. Davon standen 17 im Zusammenhang mit der Dichte der Blutgefässe, wobei jede Veränderung der Dichte mit einem Unterschied von 10 bis 19 Prozent des Schlaganfallrisikos verbunden war.
Die neue Methode könnte ein Durchbruch in der Schlaganfallprävention sein. Statt umfangreicher Bluttests und der Erfassung verschiedener Risikofaktoren könnte ein einfaches Foto der Netzhaut in Kombination mit Alter und Geschlecht ausreichen, um Hochrisikogruppen zu identifizieren. Es ist, als könnten Ärzte durch ein kleines Fenster direkt auf die Gesundheit der Blutgefässe im Gehirn blicken – und das ohne invasive Tests oder teure Untersuchungen. Besonders in Ländern, in denen der Zugang zu einer umfassenden Gesundheitsversorgung nicht selbstverständlich ist, könnte diese Methode von unschätzbarem Wert sein.
«Da Alter und Geschlecht leicht verfügbar sind und die Netzhautparameter durch Routine-Fundusfotografie ermittelt werden können, bietet dieses Modell einen praktischen und einfach zu implementierenden Ansatz zur Bewertung des Schlaganfallrisikos, insbesondere für die Primärversorgung und ressourcenarme Umgebungen», stellen die Forscher fest.
Allerdings weist die Studie auch einige Einschränkungen auf. Die Studie wurde hauptsächlich mit weissen Teilnehmern durchgeführt, sodass es ungewiss ist, ob die Ergebnisse auch für andere ethnische Gruppen gelten. Ausserdem konnten die Forscher nicht zwischen verschiedenen Arten von Schlaganfällen unterscheiden. Dennoch weckt diese Entdeckung Hoffnung für die Zukunft der Schlaganfallprävention. Denn wie so oft gilt: Vorbeugen ist besser als Heilen. Und falls ein einfaches Foto des Auges dabei helfen kann, ist dies natürlich ein Vorteil. (dhr)