Im Grunde interessiert mich nichts weniger als das Leben eines Typen, der den ganzen Tag rumbumst. Aber was hab ich wohl gestern den ganzen Tag gemacht?
Ich hab Rocco Siffredi dabei zugeschaut, wie er den ganzen Tag rumbumst. Also eigentlich Alessandro Borghi, der den Pornostar Rocco Siffredi in der italienischen Netflix-Serie «Supersex» spielt.
Und darum müsst ihr jetzt lesen, was eine darüber geschrieben hat, die einem dabei zugeschaut hat, wie er den ganzen Tag rumbumst.
Das Gute daran ist allerdings: Rocco bumst nicht nur. Er redet auch. Er sagt Dinge wie «Das Leben ist Porno.» Und dann leidet er.
In sehr vielen schönen Bildern. Das Ganze ist gar nicht so übel.
«Supersex» ist die Geschichte eines Mannes, dem es nicht gelingt, seinen Eros, die Urkraft allen Lebens, die in ihm geradezu monströs waltet, zu sublimieren. Er versucht es auch gar nicht erst.
Denn Rocco ist das fleischgewordene Verlangen selbst. Er ist Supersex, der Held aus dem gleichnamigen Schmuddelheftchen, das ihm im zarten Alter von acht Jahren vom Schicksal zugeweht wird. Sex als Superkraft, also. Das ist die sehr poetische Drehbuchversion von Francesca Manieri davon, wie Rocco zu seiner Lebenskunst kam. Die profanere ist: Es war seine Sexsucht.
So oder so ist er aber dazu bestimmt, ein Pornostar zu werden.
Mit dem grössten Schwanz der Welt – sagenhafte 24 cm! – sowieso.
Der muss aber erst einmal so gross werden. Zusammen mit dem Rest von Rocco. Sie wachsen gemeinsam in der kleinen italienischen Küstenstadt Ortona auf, in einer Sozialwohnung zusammen mit vier Brüdern, der eine, Tommaso, ist allerdings nur ein halber, munkelt man, der Sohn einer Hure, die ihn zurückgelassen habe.
Für den kleinen Rocco aber ist er Gott. Er hat alles, Schönheit, Stärke, aber vor allem hat er Lucia mit den langen Beinen unter dem luftigen Sommerröcklein. Ihm eifert Rocco nach, ihm stellt er nach, wenn er sich nachts für ein Stelldichein mit ihr trifft. Was er sieht, versteht er noch nicht, er ahnt es bloss, seine Superkraft schlummert noch tief, es ist zu früh für die Eruption, sie kommt erst im Moment des Schmerzes.
Als sein Bruder einen Anfall erleidet und nicht mehr aufsteht. Der 12-jährige Claudio, der mit einem rotweissen Helm ängstlich durch sein kurzes Leben schlich, nachdem er von den Roma-Jungs von nebenan eins auf den Schädel bekommen hatte. Er war danach nicht mehr derselbe.
Für die Mutter Carmela aber war er gerade deshalb ein Heiliger. Einer ohne Sprache, der feinste und zerbrechlichste unter ihren Söhnen, den sie mit ihrer Liebe überschütten und waschen konnte wie ein Baby, das niemals grösser wird. Ansonsten wusch sie vor allem Wäsche, hängte sie lächelnd auf und schaute dabei nie zu Rocco.
Am Ende sind es immer die Mütter, über die die Männer im Allgemeinen und in «Supersex» im Besonderen niemals hinwegkommen. Tommaso schleppt die Kränkungen durch Carmela ein Leben lang mit sich herum wie Trophäen, mit denen er dann auf andere Frauen eindrischt. Er heiratet Lucia gegen den Willen seiner Familie, gleich nachdem sie dem Briefträgerjungen ihre Brüste gezeigt hat. Er nimmt sie mit nach Paris – und schickt sie dort auf den Strich. «Wenn sie ficken will, soll sie es da tun», wird er später sagen, und ihr allabendlich das Geld abnehmen.
Tommaso wird sich auf unerträgliche Art verlieren und verleben, wird zum Kriminellen und Mörder, und bleibt dabei doch immer das Opfer, das Opfer seiner Liebe für seine Hurengattin Lucia, die er «wie ein Ritter geliebt» hat mit diesen ständig tränenfeuchten Augen, die immer noch kleiner und trauriger werden, bis sie sich, nachdem sie sich, dem eigenen Versagen auf restlos allen Ebenen menschlichen Lebens beim Zusehen überdrüssig geworden, ganz schliessen.
Während sich also Tommaso im Schnapsmeer seines selbst auferlegten Leidens ertränkt, ist Roccos Schmerz um einiges fruchtbarer. Er macht ihn erst erfolgreich. Überhaupt scheint er rastlos in einem Dreieck aus Schmerz, Tod und Sex hin und her zu pendeln, beim Sex wird er erst richtig lebendig, um beim Orgasmus aber immer wieder ein bisschen zu sterben, und das führt dann irgendwann dazu, dass er sich nach der Beerdigung seiner Mutter, noch vor ihrem frisch ausgehobenen Grab, von einer anderen Mutterfigur einen blasen lässt. «Ein Mann ohne Mutter ist kein Sohn mehr», sagt sie und kniet vor ihm nieder.
Man wird nicht immer von Vorschlaghammer-Freud erschlagen. Aber am Ende ist das Psychogramm der beiden Männer schon eher simpel gezeichnet. Zwei von der Mutter Zurückgewiesene, der eine endet als gewalttätiger Säufer, der andere, sanft und liebenswürdig im Wesen, flüchtet sich in die tröstenden Arme unzähliger Frauen, macht seine Sucht zur Profession, lernt, in 10 Sekunden zum Höhepunkt zu kommen, fickt sich mit Millionen Stössen nach oben, von denen nur ein paar wenige so hart sind, dass sich die Mädchen am Set beschweren. «Ich fick halt so!» – ist Roccos Antwort darauf.
Und so stirbt mit seinem Markenzeichen, jener so gefeierten, ungekünstelten Ruppigkeit, diesem unzähmbar Animalischen, mit dem in seinem Ejakulat lauernden Tod, den er jeder seiner Partnerinnen schenkt, auch jegliche Kritik.
Nur einmal, an einem entrückten Ort auf einer Insel ohne Namen, schreit ihm eine Frau ohne Namen ins Gesicht, er habe sie kaputtgefickt. Wochenlang leben sie gemeinsam in einem Haus und erkunden ihre Körper wie Landschaften, ernähren sich von kaltem Reis, aber vor allem voneinander. Bis sie schwanger wird, und die Realität das Idyll jener Minnengrotte zerstört. Er will wieder arbeiten, sie meint, er wolle nur wieder rumbumsen. Sie sagt:
«Du hast ihn so fest reingesteckt, als ich sagte, dass ich schwanger bin. Was hattest du vor? Wolltest du unser Kind töten? Wieder und wieder? Du bist ein Mörder [...] Du hast keine Ahnung, was Gefühle sind. Du dringst ein, entleerst dich und gehst. Das ist alles, was du kannst. Du weisst nur, wie man Leute, die dich lieben, mit dem Schwanz zerstört.»
Und er geht. Zurück zu seinem Leben, das Porno ist, und in dem sich seine Identitätssuche erschöpft zu haben scheint.
Bis, und dann geht es plötzlich ganz schnell, sich Rocco endlich verliebt. Erst in ein Foto, dann in die Frau darauf: Rosa Caracciolo. Sie drehen einen Film zusammen, sie weint danach, er sagt, sie dürfe in sein Gesicht pissen, sie lacht, er entschuldigt sich, hält ihre Hand und zack. Rocco ist gezähmt.
Er lernt das Liebemachen und schon landet sein tödliches Ejakulat in einem Becherlein mit seinem Namen, bereit, neues Leben zu schöpfen.
Jetzt weiss er, dass das das Leben ist, und der ganze Rest der Porno.
Ob dieser gezeigte Rocco Siffredi nun der echte Rocco Siffredi ist?
Was ist schon echt. Der Name jedenfalls ist es nicht, geboren wurde er als Rocco Tano. Die Wahrheit ist immer eine Frage des Blickwinkels. Der von Francesca Manieri ist letztlich ein gütiger, ein verzeihender, ein psychoanalytisch-erklärender.
Und er gefällt Rocco Siffredi selbst, denn er findet sich darin zu 98 Prozent wieder.
Vielleicht beanworten wir diese leidige Frage einfach mit Roccos Zitat, das zumindest eine ziemlich allgemein gültige Wahrheit enthält:
Und nein, wie meinen nicht Olten"
Das war doch damals die Überschrift?