Topografische Karten streben nach Objektivität. Doch ein bestimmtes Kartenelement widersetzt sich diesem Anspruch konsequent: Die Namen von Siedlungen, Weiden, Tälern und Flüssen lassen sich mit keinem Instrument der Welt vermessen. Stattdessen müssen sie bei der lokalen Bevölkerung erfragt werden. Wie heisst diese Alp? Wie nennt ihr jenen Hügel? Und wie lautet der Name des Bachs?
Diese ungewohnt subjektive Form der Datenerfassung sorgte in der Geschichte der Schweizer Kartografie für jede Menge Herausforderungen. Als besondere Zwickmühle erwies sich dabei das Spannungsfeld zwischen Mundart und Schriftsprache.
Im Bergell spricht die Bevölkerung einen örtlichen Dialekt, das Bargaiot. Es hat Ähnlichkeiten mit dem Lombardischen und dem Rätoromanischen und unterscheidet sich klar von der italienischen Schriftsprache. Als 1876 das Blatt «Maloja» der Siegfriedkarte erschien, war darin vom Bargaiot aber keine Spur: Die geografischen Namen des Bergells waren konsequent der italienischen Schriftsprache angepasst worden.
Was die Kartografen zum radikalen Eingriff in das Namengut bewogen hatte, ist nicht näher bekannt. Wahrscheinlich sollte die systematische Italianisierung aber für sprachliche Einheitlichkeit sorgen. Damit hatten die Kartografen die eiserne Regel gebrochen, wonach die Namen in der vor Ort gebräuchlichen Schreibweise erfasst werden sollten. Die Regel stellte sicher, dass man sich mit der lokalen Bevölkerung über den Karteninhalt verständigen konnte.
In der Tat empfanden die Bergellerinnen und Bergeller die italianisierten Flurnamen als fremd und unvertraut. Sie beschwerten sich «wegen dieser ‹unrichtigen› Namen» und verlangten, dass stattdessen die Bargaiot-Bezeichnungen in die Karte kamen. Wie der swisstopo-Direktor Leonz Held 1910 festhielt, ruhten die Bergeller nicht, «bis auf den betreffenden Siegfriedblättern die ursprünglichen heimatlichen Ortsnamen das Feld zurückerobert hatten.» Ab 1906 waren die geografischen Namen des Bergells so in der Karte zu finden, wie sie von der Bevölkerung vor Ort geschrieben wurden.
Auch in der französischsprachigen Schweiz mussten die Kartenmacher zwischen Mundart und Schriftsprache navigieren. Verschiedene Patois, wie die Dialekte der Romandie genannt werden, waren Anfang des 20. Jahrhunderts noch sehr gebräuchlich. Die Karten spiegelten diese Sprachsituation: Patois-Elemente wie die Ortsnamenendung auf -az oder das Wort praz für Wiese waren in der Siegfriedkarte oft anzutreffen.
Dem Berner Nationalrat Virgile Rossel war das Gemisch von Patois und Hochfranzösisch in den amtlichen Karten der Schweiz ein Dorn im Auge. Die Patois-Dialekte seien seit Jahrzehnten auf dem Rückzug und das Hochfranzösische werde sie bald vollständig verdrängt haben. Um die Karten zukunftstauglich zu machen, sollten die Mundartelemente konsequent aus der Karte getilgt werden, so Rossel.
Im Jahr 1910 wandte sich Rossel an den Bundesrat und forderte eine systematische «Französisierung» der geografischen Namen in der Romandie. Er berief sich dabei auf einen seiner Mitstreiter, den Genfer Romanistikprofessor Ernest Muret:
Der Bundesrat und die Landestopografie lehnten Rossels Vorschlag ab. Sie betonten, dass amtliche Karten kein Versuchslabor der Sprachpolitik seien. Vielmehr sollten sie die geografischen Namen so wiedergeben, wie sie der lokalen Bevölkerung vertraut waren. Ausserdem müsse eine topografische Karte die Gegenwart und nicht eine hypothetische Zukunft beschreiben: Im frühen 20. Jahrhundert waren die Patois in der Romandie noch sehr lebendig.
Trotz dieser klaren Ablehnung gelang es den Anhängern der Französisierung, ihr Projekt auf Karten des Unterwallis kurzzeitig zu verwirklichen. Verantwortlich dafür war der Topograf Charles Jacot-Guillarmod. Als hochrangiger Mitarbeiter der Landestopografie teilte er Virgile Rossels Ansichten und setzte sie heimlich in die Tat um: 1908 schmuggelte Jacot-Guillarmod französisierte Namen in das Siegfriedkartenblatt 484 «Lavey-Morcles». Auch wegen dieses unbewilligten Eingriffs wurde der Ingenieur 1912 seines Postens als Sektionsleiter Topografie enthoben.
Auch in der Deutschschweiz gab es leidenschaftliche Diskussionen über Karten und Sprache. Ein Vorwurf erwies sich als besonders hartnäckig: Die geografischen Namen der Siegfriedkarte seien zu stark ans Hochdeutsche angelehnt, während die Mundart zu kurz komme. In den 1930er-Jahren wurde diese Kritik immer lauter.
Insbesondere der Zürcher Sprachwissenschaftler Guntram Saladin setzte sich inbrünstig dafür ein, die geografischen Namen der Mundart anzugleichen. Im Jahr 1939 schrieb er in der Neuen Zürcher Zeitung, dass nur die «lebende Mundart des bodenständigen Volkes» berechtigt sei, in die Karten einzufliessen. Die hochdeutschen Namenselemente, die «volksfremde Kanzlisten und Geometer zufällig für gut befunden und auf dem Papier festgelegt haben», sollten hingegen aus den Karten verschwinden.
Mit seinen Forderungen rannte Guntram Saladin selbst bei der Landestopografie offene Türen ein. Es war die Ära der Geistigen Landesverteidigung, in der alles gefördert wurde, was als «echt schweizerisch» galt – dazu gehörte auch die Mundart. Dennoch gab es Stimmen, die eine radikale Vermundartlichung der geografischen Namen kritisch sahen. So gab der Zürcher Kartografieprofessor Eduard Imhof zu bedenken, dass doch genau das Nebeneinander von Hochdeutsch und Dialekt typisch schweizerisch sei:
Die Diskussion um die Namen in der deutschsprachigen Schweiz mündete 1948 in einem Regelwerk für die Schreibung von geografischen Namen: Schweizerdeutsche Sprechformen von Flurnamen sollten künftig Vorrang haben. In den amtlichen Karten der Schweiz machte sich die Hinwendung zur Mundart deutlich bemerkbar.
Geografische Namen sind Teil unseres Alltags und berühren sensible Identitätsfragen. Dazu kommt, dass in vielen Regionen der Schweiz ein starker Kontrast zwischen Schriftsprache und Mundart besteht. So überrascht es wenig, dass die Namen von Bächen, Hügeln, Tälern und Weiden auch heute noch für Gesprächsstoff sorgen. Das konnten auch die Weisungen von 1948 nicht ändern, die im Wesentlichen bis heute gültig sind. Sie geben zwar zumindest für den deutschschweizerischen Sprachraum gewisse Leitplanken vor, gewähren bei der Festlegung der Namen aber weiterhin viel Spielraum.
Da die sogenannte Namenshoheit bei den Kantonen liegt, ist der Umgang mit Dialekt und Hochsprache in den geografischen Namen der Schweiz auch im 21. Jahrhundert von einer grossen Vielfalt und regionalen Unterschieden geprägt. Wahrscheinlich ist das auch gut so, denn in fast 200 Jahren amtlicher Kartenproduktion hat sich zumindest eine Gewissheit herauskristallisiert: Eine künstliche Vereinheitlichung der geografischen Namen, sei es im Sinne einer Schriftsprache oder einer Mundart, stösst in der Schweiz auf wenig Gegenliebe. Wie Eduard Imhof 1945 festhielt, ist das Nebeneinander von Mundart und Schriftsprache «das sprachliche Schicksal der Schweiz» – dies galt und gilt auch für die topografischen Karten unseres Landes.
Beinwil am See im Aargau. Die sagen dort Böju.
Beinwil im Freiamt. Die sagen dort Böjel.
Beinwil im Jura. Die sagen dort Bämbel.
Im Dialekt könnte man die Dörfer viel besser unterscheiden.