Dieses Tabu-Thema raubte uns Schlaf und Nerven – bis ein (brutaler) Weckapparat half
Rund 10 Prozent der 8-Jährigen sind in der Schweiz nächtliche Bettnässer. Eine hohe Zahl, wenn man bedenkt, dass Kinder normalerweise bis zum fünften Lebensjahr trocken werden. Bei unserem Sohn war dies nicht der Fall.
Gewusst hat das praktisch nur der engste Familienkreis. Bettnässen (Enuresis noctura) ist jetzt nicht unbedingt das Thema, von welchem man einfach so allen erzählt. Es ist mit viel Scham behaftet, in der Klasse würden betroffene Kinder viel Angriffsfläche für Hänseleien bieten.
Tagsüber klappte die Kontrolle der Blase bei unserem ältesten Sohn schon länger gut, in der Nacht aber nicht. Das ist bei 5-Jährigen kein Grund, um nervös zu werden. Bei der 6-Jahres-Kontrolle beim Kinderarzt wird das Thema allenfalls langsam aktuell und mögliche Lösungen werden besprochen. Aber eigentlich auch nur dann, wenn der Antrieb dafür vom Kind ausgeht. Wir nahmen damals die Möglichkeiten (z. B. Medikamente) zur Kenntnis und warteten ab.
Unseren Sohn störte es lange nicht. Er schlief so tief, dass er das nächtliche Wasserlassen gar nicht mitbekam. Auch wenn die Windeln längst nicht mehr den ganzen Urin aufsaugen konnten und das ganze Bett nass war. Er schlief weiter.
Für uns war das mühsamer. Zum einen einfach die Vorstellung, dass er da praktisch jede Nacht in seinem Urin schläft. Zum anderen die ewige Wäscherei. Immer mal wieder das Bett neu zu beziehen, ist ja okay. Aber wenn du fast jede Nacht alles wechseln und immer mal wieder auch Duvet und Kissen waschen musst – das nervt. Und das alles bei einem Hochbett. Nicht der Start in den Tag, den man sich beim normalen Frühstücks- und Für-die-Schule-Bereitmach-Krampf mit drei Kindern wünscht.
Verschiedene Ursachen
Bettnässen kann verschiedene Ursachen haben. Zum einen einfach eine verzögerte Entwicklung oder genetische Veranlagung und ein tiefer Schlaf, zum anderen können auch emotionale Angelegenheiten wie viel Neues in der Schule oder sonst im Leben der Grund sein. Das sei vor allem bei sensiblen Kindern der Fall. Unser Sohn gehört da definitiv dazu.
Wir versuchten, dass er tagsüber regelmässig aufs WC geht, vor dem Ins-Bett-gehen wenig trinkt, ihn nochmals kurz zu wecken und mit ihm aufs WC zu gehen, bevor wir uns schlafen legten. Es hatte alles maximal kleine Auswirkungen. Eigentlich logisch, wenn man sich die oben genannten Gründe nochmals vor Augen führt. Denn die Ursache ist meist nicht, dass das Kind zu viel trinkt.
Unsere Kinderärztin vertröstete uns: Das alles komme öfter vor, als man denke. Solange das Kind keine Probleme damit habe, würde sie noch zuwarten. Es könne plötzlich besser werden. Das trat nicht ein.
Buben sind übrigens häufiger vom nächtlichen Bettnässen betroffen als Mädchen. Normalerweise sind sie tagsüber sehr aktiv und müssen ihre Batterien in der Nacht wieder aufladen, weshalb sie besonders tief schlafen.
Plötzlich belastete es ihn
Mit rund siebeneinhalb Jahren fing es an, dass sich unser Sohn über das Bettnässen ärgerte. Er wollte die Windeln nicht mehr anziehen, solange er wach war. Wir sollen das machen, wenn er schlafe (Stichwort Hochbett). Er fragte immer öfter, warum es bei ihm nicht klappe, bei seinem zwei Jahre jüngeren Bruder aber schon? Und manchmal gar bei seinem 4-jährigen Geschwister? Warum er nicht einfach so auswärts übernachten könne?
Windeln durften wir nicht mehr sagen. Wir kauften neu Pants statt «normalen» Windeln und nannten sie ab sofort «Nachtunterhosen».
Die Nerven nicht verlieren
Meist erklärten wir ihm geduldig und ohne jegliche Vorwürfe, dass er nichts dafür könne, er sich nicht dafür schämen müsse und er das lernen werde. Aber wer auch schon mal drei Kinder grossgezogen hat, der weiss: Immer ist es mit der Geduld nicht so einfach. Insbesondere nicht in der vierten Nacht in Folge morgens um halb vier.
Wir meldeten uns bei der Kinderärztin. Eine Behandlung mit Medikamenten war für uns kein Thema. Sie verschrieb den Pipi-Stop (Krankenkasse beteiligt sich). Als ich das Prinzip hörte, dachte ich, das sei ein Witz. Kann ja nicht funktionieren.
(Nachtrag: Nach dem Abwägen der Vor- und Nachteilen von Medis/Pipi-Stop war der Pipi-Stop für uns klar die erste Option, Medikamente, die gemäss unserer Kinderärztin Einschränkungen im (Trink-)Verhalten mit sich bringen und sie uns nur punktuell - z.B für Klassenlager - empfohlen hätte, eventuell als nächsten Schritt.)
Der nächtliche Weckappart
Das Gerät besteht aus einer Urin-Folie mit Sender. Man schiebt es in einem dünnen Stoffbeutel dem Kind in die Hosen. Dieses würde den allerersten Tropfen registrieren und einen Alarm starten. Das Kind erwache, lerne, eine volle Blase wahrzunehmen, den Urin zurückzuhalten und gehe aufs WC. Nach ein paar Wochen soll der Ablauf im Unterbewusstsein gefestigt sein. Die Erfolgsquote liege bei rund 90 Prozent.
Unser Sohn war wenig begeistert, sich das Ding in die «Nachtunterhosen» zu stecken. Er könne damit nicht einschlafen. Verständlich. Wir warteten also, bis er schlief, und richteten dann ein (nochmals viele Grüsse vom Hochbett).
Wir stehen im Bett, er schläft
Erwartungsgemäss ging der Alarm in den ersten Nächten kurz nach Mitternacht jeweils los. Obwohl ohrenbetäubend laut, er schlief weiter. Wir im Zimmer nebenan mussten aufspringen und ihn wecken, bevor alles durchnässt war. Denn Geschwindigkeit ist entscheidend. Das Kind soll möglichst oft mitbekommen, was da geschieht. Nett ausgedrückt: Es ist zu Beginn brutal.
In den ersten Nächten waren wir oft zu spät. Im Halbschlaf mussten wir ihn aus dem Hochbett ziehen und ins Badezimmer schleppen. Kurzfristig schafften wir uns ein zusätzliches Problem, weil jetzt in der Nacht das Bett neu gemacht werden musste. Und wichtig: Das Kind musste «richtig» geweckt werden, damit es sich am nächsten Tag erinnert.
Plaudern nachts im Badezimmer
So sassen wir mit ihm dann im Badezimmer, plauderten und fragten ihn Dinge. Er gab zwar jeweils Antwort, am Morgen konnte er sich aber nicht daran erinnern. Er schlief nach der nächtlichen Unterhaltung auch jeweils sofort wieder ein. Diese Gabe hat er wohl von mir geerbt, bei meiner Frau dauert es normalerweise länger.
Auf dem Behandlungs-Diagramm muss zudem jede Nacht protokolliert werden. Strich nach unten: Ganz nass. Waagrechter Strich: Alarm, aber nicht wirklich genässt. Strich nach oben: trocken. Bei uns sah das so aus:
Der Alarm kam dabei immer etwas später in der Nacht. Mit der Zeit erwachte unser Sohn durch das Geklingel auch selbst. Irgendwann ging der Alarm immer häufiger nicht mehr los.
Telefonische Beratung als Motivation
Während so einer Behandlung machen Kinder und auch Eltern verschiedene Phasen durch. Darum wichtig: Während der Behandlung gab's regelmässig telefonische Beratung. «Wir sind die Einzigen, die das so anbieten», sagt Christine Calderara, die operative Geschäftsführerin der Melebi SA, welche den Pipi-Stop erfand. Sie führt den Familienbetrieb in der 3. Generation.
Die Telefonate räumten Zweifel aus dem Weg und waren hilfreich für nächste Schritte. Einmal gab's eine 10-Sekunden-Bisi-Stopp-Übung während des WC-Gangs am Tag, mit der Zeit musste der Junior ein Glas Wasser trinken vor dem Schlafengehen, um die Erfolge zu festigen.
Grosse Erleichterung
Man kann sich gar nicht vorstellen, wie gross die Erleichterung jeweils war, wenn es wieder eine Nacht ohne Alarm gab. Und wie gross die Enttäuschung, wenn es nach guten Nächten doch wieder einen «Unfall» gab.
Nach rund 10 Wochen hörten wir mit dem Pipi-Stop auf. Selten landete doch noch was im Bett. Aber eigentlich war unser ältester Sohn jetzt auch in der Nacht trocken. Die Rückfallquote liegt bei fünf Prozent. Wir hofften, dass er da nicht dazugehört.
Der Rückfall
Leider gab es einige Wochen später wirklich einen Rückfall. Die Gründe dafür können unterschiedlich sein. Wir glauben, dass bei unserem Sohn zwei Dinge eine grosse Rolle spielten: Bei ihm in der Schule wurde seine Klasse aufgelöst, wodurch er auch eine neue Lehrerin erhielt. In der gleichen Phase unternahmen wir eine längere Reise mit vielen neuen Eindrücken. Für ein sensibles Kind wohl grad ein bisschen viel.
Nach der Auszeit und zurück in der Schweiz starteten wir nochmals mit dem Pipi-Stop – ganz so heftig wie beim ersten Mal war die Behandlung nicht mehr. Seit ein paar Wochen ist unser Sohn jetzt wirklich trocken. Hoffentlich ist dies beim (statistisch) anderen Kind in seiner Klasse auch (bald) der Fall.