Wissen
Schweiz

Die Geburt der Boulevardmedien

Flugblätter waren im 15. Jahrhundert die Boulevardmedien von heute und stillten die Sensationslust der Gesellschaft.
Flugblätter waren im 15. Jahrhundert die Boulevardmedien von heute und stillten die Sensationslust der Gesellschaft.Bild: Zentralbibliothek Zürich

Die Geburt der Boulevardmedien

Durch den Buchdruck konnten die Menschen ab Ende des 15. Jahrhunderts mit gedruckten Neuigkeiten versorgt werden. Nicht wenige dieser News waren ungewöhnliche Geschichten, die mitunter auch Angst und Schrecken verbreiten konnten.
09.08.2020, 19:14
Dominik Landwehr / Schweizerisches Nationalmuseum
Mehr «Wissen»

Flugblätter waren die ersten Massenmedien der Geschichte. Sie versorgten die Menschen ab Ende des 15. Jahrhunderts mit gedruckten Neuigkeiten. Oft waren sie illustriert, denn viele Zeitgenossen konnten nicht lesen und waren deshalb nur über Bilder anzusprechen.

Ein grosser Teil der Flugblätter berichtet über Himmelserscheinungen. So etwa die Nachricht von einem Sonnenring über Nürnberg vom 12. Mai 1556. Solche Darstellungen, mit hoher Kunstfertigkeit ins Holz geschnitzt und von Hand koloriert, wirken auf den heutigen Betrachter gefällig, teilweise gar dekorativ. Fast alle dieser Erscheinungen lassen sich physikalisch einfach erklären: Im vorliegenden Fall sind es Eiskristalle, welche für einen Ring um die Sonne sorgten. Der Verfasser der Flugschrift sah darin aber ein Zeichen des Himmels und eine Ermahnung, nicht vom rechten Glauben abzukommen. Der rechte Glaube war in jener Zeit der evangelische Glaube, den Martin Luther gepredigt hatte.

Sonnenring über Nürnberg, 1556.
Sonnenring über Nürnberg, 1556.Bild: Zentralbibliothek Zürich
Hier bloggt das Schweizerische Nationalmuseum
Mehrmals wöchentlich spannende Storys zur Geschichte der Schweiz: Die Themenpalette reicht von den alten Römern über Auswandererfamilien bis hin zu den Anfängen des Frauenfussballs.
blog.nationalmuseum.ch

Das Muster wiederholt sich in weiteren Einblattdrucken, so zum Beispiel in einem nur schwarzweiss überlieferten Druck von 1566 aus Basel. Hier werden Kugelerscheinungen am Himmel beschrieben, für die es bis heute keine naturwissenschaftliche Erklärung gibt. Die Erscheinung dürfte aber keine Einbildung gewesen sein, finden sich doch in der zeitgenössischen Literatur weitere Berichte von ähnlichen Beobachtungen. Auch hier werden diese Himmelserscheinungen als göttliches Vorzeichen interpretiert. Der Autor ruft sein Publikum zur Busse und zu einem Gebet für göttlichen Beistand gegen die Türken auf.

Kugelerscheinungen in Basel 1566.
Kugelerscheinungen in Basel 1566.Bild: Zentralbibliothek Zürich

Fast ebenso rätselhaft ist die Beschreibung eines Kornregens vom 23. März 1550 in Kärnten. Hier soll es während zweier Stunden Korn vom Himmel geregnet haben – die Bauern hätten das Korn vermahlen und daraus Brot gebacken. Die Geschichte hat die Zeitgenossen so beschäftigt, dass das Flugblatt auch in anderen Regionen nachgedruckt wurde. Für die Erscheinung fand man im 19. Jahrhundert eine plausible Erklärung: Demnach handelt es sich um eine Flechte, die vom Wind über grosse Distanzen geblasen wurde. Davon wussten die Zeitgenossen im 16. Jahrhundert allerdings nichts. Für sie war es das biblische Manna, das vom Himmel herunterfiel, und natürlich war auch das ein göttliches Zeichen. Ebenfalls vom Himmel fielen Heuschreckenschwärme. Sie sorgten für Angst und Schrecken und sind entsprechend dramatisch dargestellt.

Die Sammlung eines Zürcher Pfarrers

Die Flugblätter wären nicht erhalten, wenn sie nicht ein Zeitgenosse aus dem 16. Jahrhundert sorgfältig gesammelt und aufbewahrt hätte: der Zürcher Pfarrer Johann Jakob Wick (1522-1588). Er erhielt dabei Unterstützung vom Zwingli-Nachfolger Heinrich Bullinger (1504-1575). Wick war wie viele seiner Zeitgenossen erschüttert von den Wirren und Grausamkeiten der Reformationszeit und sammelte über 30 Jahre die Zeichen seiner Zeit. Für Jakob Wick waren es Zeichen der Endzeit. Nüchtern gesehen waren es Nachrichten, doch keiner machte sich die Mühe, zwischen wahr und falsch, Fakten und Gerüchten zu unterscheiden. Im Gegenteil. Je deftiger eine Geschichte war, desto mehr schien sie die ehrbaren Absichten des meist anonymen Autors zu untermauern. Eine Parallele zu «Fake News» und der Boulevardpresse des 20. Jahrhunderts ist nicht von der Hand zu weisen.

Wickiana, die Sammlung von Jakob Wick, ist also aktueller, als man im ersten Moment denkt. Himmelserscheinungen sind allerdings bei weitem nicht die einzigen Zeugnisse, die der Zürcher sammelte: Bei ihm finden sich auch Berichte von Hexenverbrennungen, Feuersbrünsten oder einer furchtbaren Explosion im Pulverlager des ungarischen Temesvar im Jahr 1576. Besondere Aufmerksamkeit erhielten in jener Zeit auch Berichte von Missgeburten bei Mensch und Tier. Und hier war man ebenfalls weit entfernt von naturwissenschaftlichen Erklärungen. Missbildungen zeigten sich zudem bei Pflanzen und Tieren. So sind zahlreiche Berichte von Wunderähren erhalten, aber auch der Bericht einer Hornmissbildung bei einem Hirsch.

Absonderliches Hirschgeweih.
Absonderliches Hirschgeweih.Bild: Zentralbibliothek Zürich

Am bizarrsten aus heutiger Sicht wirken aber die drastischen Darstellungen der Reformationspolemiken: Eine Jesuitenschule wird hier als Versammlung von Tieren dargestellt. Der Papst erscheint als grosses, hässliches Schwein, die so genannte Papstsau, und spielt auf Papst Paul IV (1476 – 1559) an. Der Papst war ein glühender Verfechter der Inquisition und ein Antijudaist. Die Schüler sind Hunde, die von anderen Hunden unterrichtet werden. Das dürfte eine Anspielung auf den Freiburger Jesuiten Petrus Canisius sein (1521 – 1597). Im Namen Canisius steckt der lateinische Begriff canis für Hund. Die Wickiana ist auch ein Beispiel für die grassierende Judenfeindlichkeit der damaligen Kirche: So findet sich das Bild einer Hinrichtung von zwei Juden, die angeblich zwei Christenkinder kaufen wollten, wohl um einen Ritualmord zu begehen.

Reformationspolemik gegen die Jesuiten – im Zentrum des Bildes die Papstsau, ein beliebtes Motiv in jener Zeit.
Reformationspolemik gegen die Jesuiten – im Zentrum des Bildes die Papstsau, ein beliebtes Motiv in jener Zeit.Bild: Zentralbibliothek Zürich

Die Sammlung des Pfarrers Johan Jakob Wick in der Zentralbibliothek Zürich wird seit der Reformationszeit sorgfältig gepflegt. Sie umfasst 25 Bände mit über 1000 Illustrationen. 1925 wurden aber die 431 Einblattdrucke aus den gebundenen Büchern herausgelöst, damit sie besser konserviert werden können. Sowohl die handschriftlichen Bände als auch die Einblattdrucke sind digitalisiert und offen zugänglich. Sie gehören deshalb auch zu den meistgefragten Beständen der Institution. In den nächsten Monaten will man die Erschliessung überarbeiten, so dass der Zugang zu den Einblattdruckern noch einfacher wird.

Bericht über die Geburt eines missgestalteten Kalbes mit zwei Köpfen aus dem Jahr 1555.
Bericht über die Geburt eines missgestalteten Kalbes mit zwei Köpfen aus dem Jahr 1555.Bild: Zentralbibliothek Zürich
>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Die Geburt der Boulevardmedien» erschien am 3. August. blog.nationalmuseum.ch/2020/08/flugblaetter-boulvardmedien

Mehr vom Blog des Nationalmuseums übernommene Beiträge:

Wenn sogar Fox News Trump attackiert...

Video: watson/een
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Sexismus in den Medien
1 / 11
Sexismus in den Medien
quelle: shutterstock / screenshot blick / bearbeitung watson
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Wie Medien ihre Themen auswählen – ein Erklärungsversuch
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
10 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Dave1974
09.08.2020 20:20registriert April 2020
Also dem heutigen Jornalismus teilweise wirklich sehr ähnlich.

Ähm, nicht falsch verstehen - damals war vieles noch einfach verdreht und nicht vielfach.

Und bitte das "teilweise" beachten. ;)
723
Melden
Zum Kommentar
avatar
Rethinking
10.08.2020 06:05registriert Oktober 2018
„Oft waren sie illustriert, denn viele Zeitgenossen konnten nicht lesen und waren deshalb nur über Bilder anzusprechen.“

Das geht heute mit den Videos wieder in dieselbe Richtung...
500
Melden
Zum Kommentar
10
Ein Ja ist mehr als ein Nein: Darum ist das AHV-Urteil richtig
Das Bundesgericht hat die Beschwerden gegen die AHV-Abstimmung abgewiesen. Das Urteil mag die Frauen ärgern, doch eine Annullierung hätte zu einem Chaos geführt.

Gross war der Ärger vieler Frauen über das Ja zur AHV 21 vor zwei Jahren. Das Ergebnis war äusserst knapp (50,5 Prozent), und eine Mehrheit hatte gegen die Anhebung ihres Rentenalters von 64 auf 65 Jahre gestimmt. Gross war deshalb die Hoffnung, als im August bekannt wurde, dass die Finanzlage der AHV positiver ist als damals behauptet.

Zur Story