Nicht immer schon galt die Schweiz als bevorzugte Reisedestination. Bevor ab dem 18. und 19. Jahrhundert zuerst Naturbegeisterte und danach Touristen in die Alpen strömten und die hiesige Berglandschaft bewunderten, wurde die alte Eidgenossenschaft vor allem als beschwerliches Transitland angesehen. Kein Wunder, gab es doch hierzulande um 1600 keine grösseren Sehenswürdigkeiten, nirgends einen Fürstenhof, die Städte waren eher klein und die Alpenüberquerung galt als gefährlich und entbehrungsreich. Ohnehin war damals das Reisen als Selbstzweck und das damit verbundene genussvolle und interessierte Entdecken von Land und Leuten noch eine Seltenheit.
Es gab aber bereits einzelne Vorreiter, die sich aus Neugierde und Abenteuerlust auf den Weg machten, fremde Länder zu entdecken. Ein solcher früher Reisender war der Engländer Thomas Coryate (1577-1617), der auf seinen Streifzügen durch Europa im Jahr 1608 auch die Eidgenossenschaft besuchte. Über seine Beobachtungen sind wir durch einen kurzweiligen Reisebericht unterrichtet, der den schillernden Namen trägt «Coryats crudities: Hastily gobled up in five moneths travells [...]» (zu Deutsch etwa: «Coryates Rohkost: Hastig heruntergeschlungen während einer fünfmonatigen Reise [...]»). Die 1611 publizierte Darstellung war seinem Gönner, dem englischen Prinzen Henry Frederick, gewidmet.
So eigenwillig wie der Bericht war auch sein Verfasser. Thomas Coryate wurde als Sohn eines Pfarrers im englischen Somerset geboren. Nach abgebrochenem Studium in Oxford trat er in den englischen Fürstendienst, wo er sich aufgrund seines geselligen Wesens vor allem als Possenreisser einen Namen machte. Neben seiner Sprachbegabung und Wortgewandtheit fiel seinen Zeitgenossen auch eine gewisse Aufgeblasenheit und persönliche Geltungssucht ins Auge.
Möglicherweise passte Coryate seine eigene Rolle am Hof bald nicht mehr, jedenfalls entschloss er sich im Jahr 1608 zu einer Europareise. Alleine und häufig zu Fuss reiste er durch Frankreich, Oberitalien, über die Alpen und durch das heutige Deutschland, bevor er nach London zurückkehrte. Die Reiselust war dadurch nicht gestillt, sondern packte den Engländer nach seiner Rückkehr erst recht und so wanderte er einige Jahre später bis nach Indien, wo er 1617 an Dysenterie starb.
Die Schweiz machte demnach lediglich einen kleinen Fleck auf der grossen Weltkarte des Thomas Coryate aus. Nur gut zehn Tage verbrachte der Engländer in der Eidgenossenschaft und im Bündner Gebiet. Seine Aufzeichnungen beschränken sich auf die Hauptstationen seiner Reise: Chur, Walenstadt, Zürich, Baden, Rheinfelden und Basel. Anders als spätere Reiseautoren interessierte sich Coryate nicht für die wilde Naturlandschaft, sondern für das alltägliche Leben der Schweizerinnen und Schweizer.
Von den vielen Beobachtungen des Engländers dürften uns einige noch heute bekannt vorkommen. In Zürich wunderte sich Coryate etwa über seine Schlafstätte. Die Zürcherinnen und Zürcher würden sich nämlich nicht wie seine Landsleute mit einer Decke zudecken, sondern mit einem grossen und sehr weichen Daunenkissen, das warm halte und trotzdem leicht sei. Die noch heute verbreitete Vorliebe der hiesigen Bevölkerung für ihre Duvets scheint also tief verwurzelt zu sein. Lobenswert erscheint Coryate weiter die generelle Sicherheit im Land. Die Leute seien ehrlich und man könne ohne jegliche Angst alleine mit grösseren Geldbeträgen unterwegs sein, denn Raubüberfälle kämen so gut wie nie vor.
Für etwas Stirnrunzeln sorgte hingegen die eigentümliche Schweizer Art, Distanzen anzugeben. Denn frage man jemanden danach, wie weit es bis zu einem bestimmten Ort sei, dann erhalte man statt einer Meilen- eine Stundenangabe. Nirgendwo sonst in der Christenheit würde dies so gehandhabt und die Information sei auch unnütz, da ja schliesslich nicht jeder im gleichen Tempo wandere. Auch dies dürfte uns bekannt vorkommen. Noch heute wird auf unseren Wanderwegweisern – im Gegensatz zur Praxis in vielen anderen europäischen Ländern – die Distanz nicht in Kilometern, sondern in Stunden und Minuten angegeben.
Eine besonders bekannte Erzählung gibt Coryate in Verbindung mit einem Besuch im Zürcher Zeughaus wieder. Ein Student führte ihn herum und präsentierte ihm neben dem aktuellen Waffenbestand auch einige «Antiquitäten». Dem Engländer wurden nicht nur Pfeile, Banner und Feldzeichen gezeigt, welche die Helvetier angeblich in ihrem Kampf gegen Julius Caesar verwendet hätten, sondern auch das Schwert von Wilhelm Tell. Eine geradezu phantastische Sammlung, welche das Zeughaus zu bieten hatte, wenn man bedenkt, dass nur sehr spärliche Relikte aus dem 1. Jahrhundert vor Christus erhalten sind und es sich bei Wilhelm Tell um eine mythische Figur handelt.
Was auch immer dem gutgläubigen Engländer gezeigt wurde, scheint mächtigen Eindruck hinterlassen zu haben. Coryate fühlte sich nämlich dadurch veranlasst, den schweizerischen Gründungsmythos samt Apfelschuss und Rütlischwur nachzuerzählen, womit dies die erste Wiedergabe der Tell-Sage in englischer Sprache darstellt. Ein kritisches Wort hatte Coryate dennoch anzubringen: Statt Tells Schwert hätte er lieber den Pfeil besichtigt, mit dem der Meisterschütze den Tyrannen Gessler erschossen hatte.
Neben vielen Aspekten, die uns heute noch vertraut erscheinen, hatte Coryate auch Dinge über die Schweiz im frühen 17. Jahrhundert zu berichten, die fremd anmuten. So fand der Engländer etwa die Lebensmittelversorgung in Zürich so gut, «dass man hier so billig wie nur irgendwo in der Schweiz oder in Deutschland leben kann».
Weiter beschreibt Coryate die Schweizer Trinksitten, die er für vergleichbar mit denjenigen der Deutschen hielt. Er habe aufpassen müssen, den Trinkaufforderungen seiner Tischgenossen nicht allzu oft nachzugeben, um nicht zu tief ins Glas zu schauen. Es sei Sitte, entweder zu trinken oder sich zu verziehen. Es mag fremd anmuten, wenn ein Engländer – heute zumeist den besonders trinkfesten Nationen zugerechnet – auf die besondere Trinkfreudigkeit der Schweizer verweist.
Dies war allerdings in der Zeit selber keine Seltenheit. Auch der spätere englische Gesandte in der Eidgenossenschaft, Abraham Stanyan (1669-1732), machte so seine Erfahrungen mit dem übermässigen Alkoholgenuss der Schweizer. So hatte er etwa seinen Ruf zu verteidigen, nachdem in Zürich das böse Gerücht aufgekommen war, er wäre dem Trinken abgeneigt.
Ebenfalls für uns eher ungewohnt ist der lockere Umgang, der zwischen den Geschlechtern in den Bädern von Baden gepflegt wurde, wie dies von Coryate mit deutlicher Empörung beschrieben wird. Frauen und Männer – nicht miteinander verheiratet – würden nämlich gemeinsam baden, nackt von der Hüfte aufwärts und nur getrennt durch Holzwände mit Fenstern drin.
Dieser Umstand schien Coryate geradezu skandalös, wie seine Notizen zeigen: «Ich betone es noch einmal: eines Mannes Weib mit nacktem Oberkörper in ein und demselben Bad mit einem anderen Mann! Und es ist einem Ehemann nicht erlaubt, Eifersucht zu zeigen, wenn er neben dem Bad steht und soviel Grund hätte, eifersüchtig zu sein.» Falls er verheiratet wäre, so Coryate, würde er seiner Frau diese Art des Badens jedenfalls nie und nimmer erlauben, aus Furcht, dass sie ihm untreu würde.
Weiter beschreibt Coryate in seinem Bericht die damalige Kleidermode in Zürich und Basel. Er wunderte sich darüber, dass alle männlichen Bewohner der Städte Zürich und Basel – seien es 10-jährige Knaben oder 100-jährige Greise – eine Schamkapsel («codpiece») trugen. Dieser Hosenlatz, welcher direkt vor den Genitalien getragen wurde und im militärischen Kontext ursprünglich als Schutz gedient hatte, entwickelte sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts in ganz Europa zum modischen Accessoire. Nun wurde die Schamkapsel gestopft und mit Bändern verziert, um die männliche Potenz hervorzuheben.
Doch auch schon damalige Modeströmungen waren kurzlebig: Gegen Ende des 16. Jahrhunderts war die Schamkapsel in den grössten Teilen Europas bereits wieder verschwunden – bis eben auf gewisse eidgenössische Gebiete. Die Schweizer scheinen hier der Kleidermode hinterherzuhinken.
Auch bei den Frauen beobachtete Coryate gewisse Auffälligkeiten, die er als «sonderbar und wunderlich» beschreibt: Sie würden nämlich ihre Haare «in zwei langen Flechten» tragen, «die weit über ihre Schulten herabhängen und die sie mit hübschen seidenen Bändern in allen möglichen Farben durchwinden». Was der Engländer hier schildert, erinnert stark an eine Zopffrisur, wie sie heute noch hin und wieder von Mädchen getragen wird.
Die Baslerinnen scheinen es Coryate übrigens besonders angetan zu haben. Nur selten auf seiner Reise habe er ebenso schöne und ansehnliche Frauen angetroffen wie in Basel. Natürlich kamen aber auch die Baslerinnen nicht ganz an die Engländerinnen heran, denen Coryate schliesslich wegen ihrer natürlichen Schönheit doch den Vorzug gab.
Nicht nur die heiteren und schönen Seiten des schweizerischen Kulturlebens finden in Coryates Bericht Erwähnung. Mehrmals thematisierte er auch den hiesigen Umgang mit dem Tod. Erstaunt zeigte er sich etwa über die Beinhäuser in und nahe der Stadt Baden, welche aufgetürmte Knochenhaufen aufbewahrten; warum man dies so mache, wisse er nicht. Ebenfalls irritierte ihn die Zürcher Begräbnispraxis, wo sogar die bedeutendsten Kirchenmänner und Reformatoren schmucklos und ohne Inschriften begraben würden, so dass man ohne einen Führer nicht herausfinden könne, wer genau wo liege.
Überdies findet sich im Bericht eine Aufzählung der fünf Hinrichtungsarten, die nach Coryate in der Eidgenossenschaft damals üblich waren: Enthaupten für Strassenräuber und Blutschänder, Erhängen für Diebe und Brandstifter, Ertränken für ehebrecherische Frauen, Verbrennen für Hexen, Zauberer und Ketzer und letztlich Rädern für Mörder. Was uns hier fremd vorkommt, war für Coryate keineswegs unbekannt und der Anblick eines Galgens – wie er diesen etwa am Stadtausgang von Rheinfelden beschreibt – konnte ihn nicht erschrecken.
Coryates Bericht ist für uns deshalb so wertvoll, da er nicht nur Aussergewöhnliches, sondern auch Alltägliches aus der neugierigen Aussenperspektive beschreibt. Gerade lebensweltliche Details werden in schweizerischen Eigenbeschreibungen kaum je erwähnt. Warum auch sollte ein Zürcher des 17. Jahrhunderts zu Papier bringen, dass er sich zum Schlafen mit einem Daunenduvet zudeckt, wenn er selber nichts anderes kennt und dies offensichtlich alle anderen in der Stadt auch so tun?
In Coryates Reisebericht zeigt sich eine Schweiz, in der Annehmlichkeiten des Lebens wie etwa eine gute Lebensmittelversorgung und sichere Strassen bereits zum Alltag gehörten. Gleichzeitig mögen die ausgelassenen Trinksitten sowie die fröhliche und jeglicher Prüderie abgeneigte Badekultur nicht unbedingt mit dem üblichen Bild einer eher ernsten und sittenstrengen hiesigen Bevölkerung in Übereinstimmung gebracht werden. Gerade das Zusammentreffen von Fremdem und Bekanntem macht diesen aussergewöhnlichen Reisebericht des Engländers so lesenswert.