Die grenzenlose Freiheit auf dem Velo, die es vor 100 Jahren noch nicht gab
Vor hundert Jahren musste jeder Fahrradfahrer und jede Fahrradfahrerin im Land einen Führerausweis auf sich tragen und das Dokument jedes Jahr für eine Gebühr von zwei Franken verlängern lassen. Heute geniessen wir beim Fahrradfahren viel grössere Freiheiten als damals.
Das Dokument heisst: «Bewilligung zum Fahren mit Fahrrädern. Bewilligt vom Regierungsstatthalter.» Die gesetzliche Grundlage hat der Bundesrat am 7. April 1914 erlassen, sie bleibt bis in die 1930er-Jahre hinein gültig. Unter dem etwas sperrigen Titel «Konkordat über eine einheitliche Verordnung betreffend den Verkehr mit Motorfahrzeugen und Fahrrädern».
Die Kantone haben die Vorschriften umzusetzen und der Kanton Bern regelt beispielsweise am 21. Juli 1914 das Fahrradfahren durch die «Vollziehungsverordnung zum Dekret betreffend des interkantonalen Konkordat über den Verkehr mit Motorfahrzeugen und Fahrrädern». Der Amtsschimmel wiehert schon zu den Zeiten unserer Vorväter laut und ausdauernd.
Hier ein paar Auszüge aus dem Konkordat. Artikel 58 der bundesrätlichen Verordnung schreibt vor:
Die erforderliche Ausweiskarte des Kantons Bern ist ein Büchlein mit 42 Seiten. Darin finden wir alle Vorschriften in deutscher und französischer Sprache.
Von der Verpflichtung eines Ausweises waren gemäss bundesrätlicher Verordnung ausgenommen:
- Militärfahrradfahrer im Dienst.
- Ausländer auf der Durchreise, sofern der Aufenthalt in der Schweiz nicht länger als drei Monate dauert, sofern sie im Besitz der Kontrollausweise ihres Heimatstaates sind und dieser Gegenrecht hält.
Der Bundesrat regelte auch, wie ein Fahrrad ausgerüstet sein muss. Beim Artikel 62 geht es um Alarmapparat, Bremse und Beleuchtung:
Umfangreich sind die Verkehrsbestimmungen, nachzulesen in den Artikeln Nummer 63 bis 71:
Die Obrigkeit belehrt den Fahrradfahrer mit zehn Geboten, die auf den ersten zwei Seiten im Fahrausweis-Büchlein abgedruckt sind:
- Vor der Abfahrt vergewissere Dich, dass Bremse, Licht, Reflektor und Signalglocke in Ordnung sind.
- Unterlasse, eine zweite Person, gefährliche Werkzeuge oder Lasten auf deinem Rad mitzuführen.
- Befolge gewissenhaft die Verkehrsregeln: rechts ausweichen, links vorfahren, rechts anhalten.
- Mässige Dein Tempo bei Strassenkreuzungen und steige an steilen Strassen lieber ab, als dass Du Dir den Tod holst.
- Fahre anderen Fahrzeugen nur vor, wenn die Bahn vor Dir frei und übersichtlich ist.
- Schliesse hinter Automobilen und Strassenbahnen nicht derart nahe auf, dass Du Dir bei einem plötzlichen Stop derselben den Kopf einrennst. Hänge Dich nie an solche Fahrzeuge.
- Nimm Rücksicht auf die Fussgänger und erschrecke sie nicht durch zu spät abgegebene Warnsignale.
- Betrachte die Strasse nicht als Ort, wo Du dich als Kunstfahrer produzieren darfst. Dies ist heute zu gefährlich.
- Lies und befolge die Verkehrsvorschriften.
- Fahre vorsichtig, auch wenn Du keine Gefahr vermutest. Die Vorsicht und die Beachtung der 10 Ratschläge wird Dich und deine Mitmenschen vor Schaden an Leib und Gut bewahren.
Wer die Gebote, Vorschriften und Gesetze missachtet, wird natürlich bestraft:
So hat der Staat schon vor mehr als hundert Jahren das Fahrradfahren bis ins Detail geregelt. In den Grundzügen sind bereits die gesetzlichen Vorschriften zu erkennen, die heute für den Autoverkehr gelten.
Alles in allem erkennen wir: Das Fahrradfahren ist einer der wenigen Bereiche, in denen uns der Staat heute mehr Freiheiten gewährt und weniger Papierkram vorschreibt als in der guten alten Zeit. Wir benötigen inzwischen weder Fahrausweis noch Nummernschild. Beim Autofahren wird die Schraube immer mehr angezogen, beim Velofahren wird sie gelockert. Ja, das unmotorisierte Zweirad ist sozusagen ein Symbolfahrzeug für Freiheit.