Viel Volk auf dem Velo in Genf, um das Jahr 1940.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV
Les Bonbons de Klaus
Der Staat mischt sich immer mehr in unser Leben ein. Eine Flut von Gesetzen nimmt uns Freiräume. Das behaupten Leute, die sagen: Früher war alles besser. Aber stimmt das? Ein Beispiel zeigt uns, dass früher nicht alles besser war.
10.03.2024, 15:2619.07.2024, 10:02
Vor hundert Jahren musste jeder Fahrradfahrer und jede Fahrradfahrerin im Land einen Führerausweis auf sich tragen und das Dokument jedes Jahr für eine Gebühr von zwei Franken verlängern lassen. Heute geniessen wir beim Fahrradfahren viel grössere Freiheiten als damals.
Das Dokument heisst: «Bewilligung zum Fahren mit Fahrrädern. Bewilligt vom Regierungsstatthalter.» Die gesetzliche Grundlage hat der Bundesrat am 7. April 1914 erlassen, sie bleibt bis in die 1930er-Jahre hinein gültig. Unter dem etwas sperrigen Titel «Konkordat über eine einheitliche Verordnung betreffend den Verkehr mit Motorfahrzeugen und Fahrrädern».
Die Kantone haben die Vorschriften umzusetzen und der Kanton Bern regelt beispielsweise am 21. Juli 1914 das Fahrradfahren durch die «Vollziehungsverordnung zum Dekret betreffend des interkantonalen Konkordat über den Verkehr mit Motorfahrzeugen und Fahrrädern». Der Amtsschimmel wiehert schon zu den Zeiten unserer Vorväter laut und ausdauernd.
Hier ein paar Auszüge aus dem Konkordat. Artikel 58 der bundesrätlichen Verordnung schreibt vor:
«Jeder Radfahrer muss eine seitens der zuständigen kantonalen Behörde gegen eine von letzterer festgelegten Gebühr ausgestellte Ausweiskarte bei sich führen, welche seinen Vornamen, Familiennamen, Wohnort, Beruf, Alter sowie die Kontrollnummer des Fahrrades angibt. Die Kantone sind berechtigt von ihren Bewohnern für die Ausweiskarte.»
Die erforderliche Ausweiskarte des Kantons Bern ist ein Büchlein mit 42 Seiten. Darin finden wir alle Vorschriften in deutscher und französischer Sprache.
Der Ausweis, der mitgetragen werden musste.Bild: privat
Von der Verpflichtung eines Ausweises waren gemäss bundesrätlicher Verordnung ausgenommen:
- Militärfahrradfahrer im Dienst.
- Ausländer auf der Durchreise, sofern der Aufenthalt in der Schweiz nicht länger als drei Monate dauert, sofern sie im Besitz der Kontrollausweise ihres Heimatstaates sind und dieser Gegenrecht hält.
Militärradfahrer der Schweizer Armee während des 1. Weltkriegs im Jura.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV
Der Bundesrat regelte auch, wie ein Fahrrad ausgerüstet sein muss. Beim Artikel 62 geht es um Alarmapparat, Bremse und Beleuchtung:
«Jedes Fahrrad muss mit einem bis auf 50 Meter hörbaren Alarmapparat (Glocke oder Schelle) sowie mit einer rasch und sicher wirkenden Bremse versehen sein. Vom Eintritt der Dämmerung an darf nur mit gut leuchtender, auf der Vorderseite des Fahrrades angebrachten Laterne mit weissem Licht und einer von hinten sichtbaren roten Reflexlinse gefahren werden.»
Umfangreich sind die Verkehrsbestimmungen, nachzulesen in den Artikeln Nummer 63 bis 71:
Artikel 65: «Das Loslassen der Lenkstange und der Pedale während des Fahrens ist untersagt. Das Fahren von zwei oder mehreren Personen auf Fahrrädern, die nur für eine Person bestimmt sind, ist untersagt.»
Artikel 67: «Der Radfahrer hat Fuhrwerken, Reitern und Fussgängern rechts auszuweichen und links vorzufahren. Die Absicht, vorzufahren, hat er durch Zuruf oder Alarmapparat rechtzeitig kundzutun.»
Heiri Suter führt die Spitzengruppe der Züri-Metzgete 1924 an.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV
Artikel 69: «Der Radfahrer hat anzuhalten, wenn bei seinem Herannahen Reit-, Zug- oder Lasttiere sowie Viehherden Zeichen von Scheu äussern.»
Artikel 71: «Auf den Anruf oder das Zeichen eines Vertreters der Behörde, der sich als solcher zu erkennen gibt und ausweist, hat der Radfahrer abzusteigen und auf Verlangen seine Ausweiskarte vorzuzeigen.»
Die Obrigkeit belehrt den Fahrradfahrer mit zehn Geboten, die auf den ersten zwei Seiten im Fahrausweis-Büchlein abgedruckt sind:
- Vor der Abfahrt vergewissere Dich, dass Bremse, Licht, Reflektor und Signalglocke in Ordnung sind.
- Unterlasse, eine zweite Person, gefährliche Werkzeuge oder Lasten auf deinem Rad mitzuführen.
- Befolge gewissenhaft die Verkehrsregeln: rechts ausweichen, links vorfahren, rechts anhalten.
- Mässige Dein Tempo bei Strassenkreuzungen und steige an steilen Strassen lieber ab, als dass Du Dir den Tod holst.
- Fahre anderen Fahrzeugen nur vor, wenn die Bahn vor Dir frei und übersichtlich ist.
- Schliesse hinter Automobilen und Strassenbahnen nicht derart nahe auf, dass Du Dir bei einem plötzlichen Stop derselben den Kopf einrennst. Hänge Dich nie an solche Fahrzeuge.
- Nimm Rücksicht auf die Fussgänger und erschrecke sie nicht durch zu spät abgegebene Warnsignale.
- Betrachte die Strasse nicht als Ort, wo Du dich als Kunstfahrer produzieren darfst. Dies ist heute zu gefährlich.
- Lies und befolge die Verkehrsvorschriften.
- Fahre vorsichtig, auch wenn Du keine Gefahr vermutest. Die Vorsicht und die Beachtung der 10 Ratschläge wird Dich und deine Mitmenschen vor Schaden an Leib und Gut bewahren.
Die 10 Gebote für Radfahrer.Bild: privat
Wer die Gebote, Vorschriften und Gesetze missachtet, wird natürlich bestraft:
Paragraph 7: «Widerhandlungen gegen die Vorschriften des Konkordats werden, sofern sie nicht geringfügiger Art sind, mit einer Busse von 1 – 500 Franken bestraft. Wiederholungen geringfügiger Art werden mit einer Busse von 1 – 50 Franken bestraft.»
Paragraph 8: «In Fällen wiederholter Übertretung oder schwerer Verletzung der Vorschriften des Konkordats ist als Nebenstrafe der Entzug der Fahrbewilligung auszusprechen. Der Entzug geschieht entweder vorübergehend für eine Dauer von drei Monaten bis fünf Jahre oder endgültig.»
Ein stolzer Radfahrer im Jahr 1901 vor der Brücke der Seilbahn Rigiblick in Zürich.Bild: KEYSTONE
So hat der Staat schon vor mehr als hundert Jahren das Fahrradfahren bis ins Detail geregelt. In den Grundzügen sind bereits die gesetzlichen Vorschriften zu erkennen, die heute für den Autoverkehr gelten.
Alles in allem erkennen wir: Das Fahrradfahren ist einer der wenigen Bereiche, in denen uns der Staat heute mehr Freiheiten gewährt und weniger Papierkram vorschreibt als in der guten alten Zeit. Wir benötigen inzwischen weder Fahrausweis noch Nummernschild. Beim Autofahren wird die Schraube immer mehr angezogen, beim Velofahren wird sie gelockert. Ja, das unmotorisierte Zweirad ist sozusagen ein Symbolfahrzeug für Freiheit.
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Aber ich ganz sicher, dass nun viele Kommentare folgen, welche diese Gesetze für Velofahrer wieder einführen möchten.
Schliesslich ist der Velofahrer das grösste Übel im Strassenvekehr und für hunderte von Toten pro Jahr verantwortlich. 🤣
Aber stimmt schon, ich fahre Velo weil dort die Freiheiten sehr gross sind (auch MIT Einhalten der Gesetze... 😉)
😂😂 Lustige Gebote damals. 😂😂