Die Politikwissenschafterin und Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali forderte kürzlich in einem Beitrag im «Wall Street Journal» Europa müsse von Israel lernen, um das «Krebsgeschwür des islamistischen Extremismus in seiner Mitte» auszurotten. Anstatt den jüdischen Staat im Nahen Osten zu dämonisieren, soll Europa von den Erfahrungen Israels Nutzen ziehen, so die prononcierte Kritik der Niederländerin. Der konservative israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu doppelte kurz darauf nach: Europa müsse im Umgang mit dem sogenannten «Islamischen Staat» nach Israel blicken – dort habe man effektive Methoden gegen den islamistischen Terrorismus entwickelt.
Tatsache ist, dass es in Israel seit langem keine grösseren Terroranschläge mehr gegeben hat. Die rigorosen Sicherheitsmassnahmen im jüdischen Staat haben Wirkung gezeitigt. Gleichzeitig ist die jüngste Anschlagsserie in Israel – Messerattacken von meist jugendlichen Arabern und Angriffe mit Fahrzeugen – aber auch Beweis dafür, dass dem Terrorismus mit Zäunen, Militärpräsenz und Geheimdienst-Technologie alleine kaum beizukommen ist.
Überdies ist der Preis für die Sicherheitsmassnahmen hoch – nicht nur in finanzieller Hinsicht. Die Vorkehrungen Israels, um seine Einwohner vor Hamas, «IS», Hisbollah, Kaida, Iran und den feindlich gesinnten arabischen Staaten im Nahen Osten zu schützen, schränken die Bürger in ihrer Freiheit empfindlich ein. Allerdings ist in Israel «die Bereitschaft, für Sicherheit zu leiden», wie die NZZ schreibt, wohl um einiges grösser als in Europa. Die Erfahrungen der Shoa, die chaotische Staatsgründung, der isolierte Status im Nahen Osten und das Leben im permanenten Kriegszustand beeinflussen das Abwägen zwischen Sicherheit und Freiheit wohl entscheidend.
Hinzu kommt, dass eine ganze Bevölkerungsgruppe marginalisiert wird. Für die 1.7 Millionen Araber ist das, was amerikanische Muslime nach 9/11 erlebten, seit langem schmerzhafte Realität. Misstrauische Blicke in der Öffentlichkeit, Schikane bei Polizeikontrollen und vor Gericht: De facto ist Israel in vielerlei Hinsicht eine staatlich verordnete Zweiklassengesellschaft, und eine solche kann eine aufgeklärt- demokratische westliche Welt nicht tolerieren.
Denn: Was hiesse «von Israel lernen» konkret? Ein Blick auf die rigorosen Sicherheitsmassnahmen, die Israel seit der Staatsgründung 1948 prägen:
Israel hat sich weitgehend abgeschottet. Im Norden, wo das Land an den notorisch instabilen Libanon und an das bürgerkriegsversehrte Syrien grenzt, stehen Zäune und Stacheldraht. An der Grenze zu Jordanien wurde vor kurzem mit dem Bau eines neuen Zauns begonnen, das Tote Meer und den See Genezareth verbindet eine Zaunanlage und im Süden trennt ein 230 Kilometer langer Zaun Israel vom Nachbarland Ägypten.
Israel steht unter Waffen: Für Männer und Frauen gilt die allgemeine Wehrpflicht, ausgenommen sind nur arabische Israeli sowie schwangere Frauen. Seit einem Jahr müssen auch orthodoxe Juden Wehrdienst leisten. Die Sollstärke der Armee beläuft sich auf 176'000 Soldaten, zusätzlich können über 550'000 Reservisten aufgeboten werden.
Soldaten und private Sicherheitskräfte sind in Israel ein alltägliches Bild: An allen neuralgischen Punkten sind sie postiert. In der Jerusalemer Altstadt, dem religiösen Schmelztiegel, wo regelmässig ultraorthodoxe Juden mit palästinensischen Demonstranten aneinandergeraten, sind schwerbewaffnete Sicherheitskräfte neben Ramschhändlern ein Sujet für Touristen.
Schulen, Universitäten, Einkaufszentren, Bibliotheken, Vergnügungstempeln: Ohne Metalldetektoren geht hier nichts. Das Sicherheitsprozedere führt dazu, dass alltägliche Verrichtungen oft zeitraubend sind. Das selbe Bild zeigt sich auch am grössten Verkehrshub des Landes: Dem Ben-Gurion-Flughafen. Reisende werden hier rigorosen Sicherheitsmassnahmen unterzogen. Mehrstündige Befragungen bei Verdachtsmomenten sind Usus.
Die Cyber-Tech-Branche in Israel boomt – nicht zuletzt im Sicherheitsbereich. Israelische Firmen haben sich einen Namen gemacht, weltweit greifen Staaten und Unternehmen auf israelisches Know-How zurück. Der Geheimdienstapparat gilt aus ausgezeichnet vernetzt, internationale Beobachter attestieren ihm hervorragende Arbeit. Entsprechend kostspielig gestaltet sich das Ganze: Jährlich gibt der israelische Staat über zwei Milliarden Dollar aus, in den sieben Amtsjahren von Netanjahu als Ministerpräsident sind die Budgets der beiden Geheimdiensten Shin Bet (Inland) und Mossad (Ausland) um 60 Prozent gestiegen. (wst)