Sie wird frenetisch bejubelt und mit dem Tod bedroht: Die türkischstämmige Rechtsanwältin Seyran Ates (54) hat mit der Gründung einer liberalen Moschee in Berlin ein regelrechtes Erdbeben ausgelöst. Dass in der Moschee Frauen und Männer gemeinsam beten – letztere ohne Kopftuch –, dass das Freitagsgebet von einer weiblichen Imamin gesprochen wird, dass auch Schwule und Lesben willkommen sind: Es ist je nach Lesart ein Meilenstein für den modernen Islam – oder ein «Angriff auf die Religion».
Letzteres entspricht der Haltung des ägyptischen Fatwa-Amts – einer Behörde für islamische Rechtsauslegung. Sie moniert, es verstosse gegen die von Gott auferlegten Glaubenspflichten, wenn Frauen in der Moschee kein Kopftuch trügen. Die türkische Religionsbehörde Diaynet verurteilt die Reform-Moschee ebenfalls scharf. Die Reaktionen der Muslime in Deutschland reichen von Empörung bis hin zu Euphorie.
Und in der Schweiz? Wir haben jene Exponenten befragt, die die Islam-Debatte hierzulande in der Öffentlichkeit prägen: Darf eine Moschee so liberal mit den islamischen Traditionen umgehen? Die Antworten zeigen: So progressiv sind die medialen Wortführer der Schweizer Muslime in der Frage auf einer Skala von 1 bis 10.
Saïda Keller Messahli, die Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam, ist selber am Berliner Projekt beteiligt, Gründerin Seyran Ates kennt sie seit Jahren. Für Keller-Messahli ist klar: «Auch die Schweiz braucht eine liberale Moschee, in der sich moderne, weltoffene Muslime zuhause fühlen.»
Sie verweist darauf, dass die Mehrheit der Schweizer Muslime heute nicht organisiert ist und sich nicht mit den bestehenden Moscheen identifiziert. Keller-Messahli ist jedoch überzeugt, dass eine entsprechende Nachfrage vorhanden wäre: «Das überwältigende Feedback in Berlin zeigt es ganz deutlich: Viele Leute sehnen sich danach, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, die mit der Zeit Schritt hält.» Dazu gehöre etwa, dass beide Geschlechter – die Frauen unverschleiert – miteinander beten könnten.
«Im konservativen Islam wird davon ausgegangen, dass Männer ihre Triebe nicht im Griff haben, wenn eine Frau neben ihnen das Gebet spricht und sie deshalb räumlich abgetrennt sein müsse.» Für viele Schweizer Muslime sei diese Doktrin völlig «lebensfremd» – eine Veränderung tue daher Not.
Keller-Messahlis Progressiv-Faktor: 10 von 10 Punkten.
Der Islam blicke auf eine 1400-jährige Tradition zurück, sagt Önder Güneş, Sprecher der Föderation Islamischer Dachorganisationen der Schweiz (FIDS). «Und wie in der katholischen Kirche und in der jüdischen Tradition gibt es zum Thema Frauen als Vorbeterinnen gewisse Grundregeln, die nicht einfach umgestossen werden können.»
Frauen dürften sehr wohl als Gelehrte auftreten oder in einer reinen Frauengruppe das Gebet leiten. Weibliche Imaminnen seien beim gemischten Gebet aber nicht vorgesehen. Insofern teile die FIDS die Kritik, dass die liberale Moschee in Berlin gegen wichtige rituelle Prinzipien verstosse.
Über die Jahrhunderte habe es im Islam immer eine Dynamik der Reform gegeben, so Güneş, dessen Organisation den Anspruch erhebt, in der Schweiz den «Islam der Mitte» zu vertreten. «Reformen sind aber nicht Sache von spontanen Interpretationen, sondern bedürfen einer Analyse der Traditionsquellen und einem fundierten Dialogprozess unter Gelehrten.»
Güneş' Progressiv-Faktor: 5 von 10 Punkten.
«Der Islam hat für sehr viele verschiedene Ausprägungen Platz», sagt Farhad Afshar, Präsident der Koordination Islamischer Organisationen Schweiz (Kios). Der Islam kenne keine Kirche mit beherrschender Lehrmeinung. So würden indonesische Hochzeiten in der Moschee mit Musik gefeiert, was in Saudi Arabien «ein Sakrileg wäre». Dennoch steht Afshar der liberalen Berliner Moschee skeptisch gegenüber.
Voraussetzung dafür, dass eine Spielart des Islam anerkannt werde, sei, dass sie der lokalen Kultur entspreche und von den Gelehrten sowie von der muslimischen Bevölkerung getragen werde. «Diese sogenannt Liberalen in Berlin erheben sich über den traditionellen Islam, indem sie ihn als rückständig und konservativ darstellen», kritisiert Afshar.
Wer sich in dieser Weise von den islamischen Grundprinzipien distanziere, könne vielleicht den Status einer «Sekte» erlangen, nicht aber Teil der grossen islamischen Gemeinschaft werden. In der Schweiz habe ein Versuch im Haus der Religionen gezeigt, dass es von vielen Muslimen nicht geschätzt werde, wenn eine Frau ohne Kopfbedeckung als Vorbeterin das Freitagsgebet spreche.
Afshars Progressiv-Faktor: 4 von 10 Punkten.
«Jedem steht es frei, eine Sekte zu gründen. Dies garantiert die Religionsfreiheit», sagt auch Qaasim Illi, Sprecher des Islamischen Zentralrats der Schweiz. Erkläre sich eine Person oder Gruppe allerdings dem Islam zugehörig, so unterwerfe er sich der Normativität des Korans und der Sunna (überlieferte Gewohnheiten des Propheten Mohammed, Anm. d. Red.) «Wird jene über- oder unterschritten, muss er mit Kritik rechnen.»
Mit Blick auf die islamische Geschichte dürfe bezweifelt werden, «ob die besagte Gruppe ihr Dasein als marginale Sekte» hin zum Mainstream schaffe, so Illi. Der Islam sei bisher «durch seinen stabilen und wissenschaftlich hochetablierten Quellenkorpus im Wesentlichen gegen jede Art anthropologischer Eingriffe immun geblieben». Er verweist weiter darauf, dass es im Islam keinen Klerus gebe, der eine Reform beschliessen könnte, wie dies etwa in den päpstlichen Konzilen geschehe.
Der IZRS wird regelmässig für seine Nähe zu salafistischen Kreisen kritisiert. Derzeit laufen in der Politik verschiedene Bestrebungen, den Zentralrat als Organisation oder dessen Anlässe zu verbieten.
Illis Progressiv-Faktor: 1 von 10 Punkten.