Wie schlimm es um Roger Federers (36) Rücken steht, das wissen wohl nur er und sein innerster Zirkel. Verspannungen und plötzlich auftretende Beschwerden sind Teil seiner Karriere und erstmals 2003 in Wimbledon aufgetreten, als ihm vor den Achtelfinals ein «stechender Schmerz» ins Kreuz schoss. Seither beschäftigt ihn die Problemzone immer wieder. Wie bei den World Tour Finals 2014, als er nach dem Sieg gegen Stan Wawrinka nicht einmal mehr sitzen kann und den Final gegen Novak Djokovic absagen muss. «Der Wechsel auf Hartplatz ist immer ein Schock für den Körper», sagt Federer.
Um im Hinblick auf die in einer Woche beginnenden US Open kein unnötiges Risiko einzugehen, verzichtete er auf eine Teilnahme in Cincinnati. «Die Gesundheit geht vor. Ich darf jetzt keinen Blödsinn machen.» Schon seit Jahren stärkt er die Muskulatur am Rücken mit spezifischen Übungen. Ablauf, Intensität und Anzahl der Wiederholungen tariert er immer wieder neu aus. «Ich hatte meine Übungen zwar immer gemacht, aber zu oft das Gleiche. So entstand eine Dysbalance. An gewissen Stellen wurde der Rücken zu stark, andere gingen vergessen», sagte Federer vor drei Jahren in New York.
Die Wirbelsäule ist ein Geniestreich der Anatomie. Sie hält uns aufrecht, trägt einen Grossteil unseres Gewichts und ist gleichermassen stabil und beweglich. Sie besteht aus stabilen Bausteinen wie den Wirbelkörpern und aus flexiblen wie Bandscheiben und Wirbelgelenken. Zusammen mit Kapseln, Bändern, Sehnen, Muskeln und Nerven, welche die einzelnen Wirbel und grösseren Partien der Wirbelsäule miteinander verbinden. Zwischen den Wirbeln sitzen die Bandscheiben. Die Wirbelsäule wirkt dabei wie ein Stossdämpfer. Die Muskulatur schluckt die Erschütterungen beim Gehen.
Doch die Wirbelsäule nutzt sich stark ab. Bandscheiben verlieren an Elastizität, Bänder leiern aus, Gelenke werden brüchig. Bei Menschen ab 30 Jahren werden in den Bandscheiben Risse beobachtet. Spezialisten sagen, die Wirbelsäule habe ein Ablaufdatum, das mit 50 Jahren erreicht sei. Im Fall von Roger Federer kommt eine einseitige und repetitive Belastung bei gebeugtem Rücken und mit zum Teil stark verdrehter Wirbelsäule hinzu. Für Muskeln, Kapseln und Gelenke sind stark asymmetrische Bewegungen wie beim Aufschlag Gift.
Federer ist mit seinen Rückenproblemen keine Ausnahme unter den Tennisspielern. Eine Studie belegt, dass jeder dritte Profi unter chronischen Rückenschmerzen leidet. Von den aktuell zehn Besten der Welt wurden nur Marin Cilic, Alexander Zverev und Dominic Thiem bisher noch nie mit Problemen am Rücken konfrontiert. Alle anderen sind zum Teil seit Jahren eingeschränkt. Am stärksten betroffen ist Andy Murray (30). Als er 2013 als erster Brite seit Fred Perry 1936 in Wimbledon gewinnt, nimmt er meist schon vor dem Spiel Schmerzmittel ein.
Drei Monate später ist eine Operation wegen einer Diskushernie unumgänglich. Um die Muskulatur, Sehnen und Gelenke zu stimulieren, setzt Murray seither auf Gyrotonik. Dabei handelt es sich um ein Bewegungskonzept, das die Wirbelsäule als zentralen Träger des Körpers betrachtet. Trainiert werden nicht einzelne Muskeln, sondern Muskelketten.Verletzungen sind auch Rafael Nadals (31) ständiger Begleiter.
Um chronische Rückenschmerzen in den Griff zu bekommen, lässt er sich im Herbst 2014 Stammzellen aus dem eigenen Körper entfernen, zwecks Vermehrung einem Kultivierungsprozess unterziehen und danach in die betroffenen Gelenke injizieren, was den Wiederaufbau des Knorpels begünstigen soll. Die Methode ist umstritten und in zahlreichen Ländern untersagt.
Weil falsche Bewegungen ihn für längere Zeit ausser Gefecht setzen könnten, pausiert Roger Federer auf Cincinnati und damit auf die Chance, wieder die Nummer eins der Welt zu werden. Auf der faulen Haut dürfte er aber nicht liegen. Bewegung fördert die Durchblutung und lockert die verspannte Muskulatur. Zu lange Ruhepausen verschlimmern die Verspannung und führen zu Fehlhaltungen. Wer rastet, der rostet. Federer befindet sich in einem Teufelskreis.Doch Roger Federer hat gelernt, mit den Beschwerden umzugehen.
Vor einem Jahr sagt er in Madrid diesen Satz: «Ich habe lieber Probleme mit dem Rücken als mit dem Knie, weil ich weiss, wie ich damit umgehen muss und wie viel Zeit es beanspruchen kann.» Normalerweise würden die Schmerzen nach wenigen Tagen abklingen. Bis zu den US Open bleibt ihm noch eine Woche. (aargauerzeitung.ch)