Herbst 1980, nachts um halb 2. Im Bildschirm oberhalb des verspiegelten Pissoirs lief ein Porno mit Männern, was beim Nordostschweizer Landei gleich zur mittelschweren Systemüberlastung führte.
Flo hatte mich bei meinem ersten Wien-Besuch ins «Motto» mitgenommen, einen Schwulenladen, der sich gerade öffnete und bei der allgemeinen Schickeria ur-angesagt war. Mein Wiener Kumpel kannte den Laden dank Udo Bockelmann – «so heisst der Udo Jürgens in echt, schmähohne». Udo war nämlich der Onkel von Flos Freundin. Ich versuchte, mit etwas New-Wave-inspirierter Blasiertheit meine Verstörung zu überspielen, aber auch zwei Gin Tonics und eine Portion Schinkenfleckerl später war der brave Kantischüler aus Neuhausen am Rheinfall schwer beeindruckt von diesem Grossstadt-Nightlife-Sündenpfuhl.
Weiter in die Tiefe der Nacht gings in Flos BMW – Richtung Schloss Schönbrunn.
Aber nicht wegen Sissi. Am Weg lag die neueröffnete Tanzpulver-Disco U4, wo wir zu Normals «Warm Leatherette», «Love Is The Drug» in der Grace-Jones-Version und «Once In A Lifetime» halbwegs cool im Stroboflash rumzuckten. Ich? Kannte mich nicht mehr aus.
Müssen wir uns wundern? Müssen wir nicht. Mein Ausgang zu Hause beschränkte sich damals vorwiegend auf Wochenenden im Jugendkeller in der Schaffhauser Altstadt. Dort fandest du so viel Verruchtheit und Glamour wie in einem drei Tage alten Wurstbrot. Aus den umliegenden Quartieren und Käffern kam jeweils die Dorfjugend auf frisierten Puch Velux mit Bananensätteln in «die Stadt».
Das war nicht unpraktisch, denn auch am Wochenende fuhren die letzten Busse um halb 12. Problem, Problem: Immerhin bis halb 1 nämlich spielte der langmattige Jugendkeller-DJ-Held Üse für langmattige Viertelfreaks «On Broadway», «Exodus», «Hells Bells» oder die 17-minütige Version von Rare Earths «Ma» (wenn er 'ne Pinkelpause brauchte) – voll Party, weisch!
Wenn ich grad nicht meine Neandertaler-Moves zur Musik machte, versuchte ich aufzufallen, indem ich irgendwie interessant an die Decke des Gewölbekellers schaute. Dort hingen grosse, graue, mit Gips gefüllte Tücher, die wie Ärsche aussahen – «guet für de Sound, weisch», hatte mir Üse mal erklärt.
Okay.
Alkohol? Nada! Der «Chäller», wie wir Profis ihn nannten, wurde von der Stadt betrieben. Und die Stadt musste «die Jugend schützen», man kennt das ja. Auch die Sache mit dem Vorlöten war eher tricky in einer Zeit, wo sie noch nicht an jeder zweiten Ecke mit gekühlten Ten-Packs nach dir warfen. Allenfalls setzten wir uns zu den Stammgästen, die einen jeweils etwas komisch anschauten, in den «Oberhof» gleich ums Eck, um hibbelig nen Chübel zu trinken.
Oder man verschwand mit den Gspändli ins nahe Pärkli und zog an einer rumgereichten Tüte. «Don’t criticize it, legalize it» – nicht nur DJ Üse mochte Peter Tosh: Eine Barfusstänzerfraktion hüpfte zu den immer gleichen Reggae-Nummern mit weiten Batikhosen und ebenso weit ausholenden Armbewegungen geflügelhaft über den «Chäller»-Floor.
Konzerte gab es damals kaum. Darum pilgerte ich Musiknarr eigentlich immer hin, wenn live was ging: Polnische Rockjazzformationen, Polos SchmetterDing, Schaffhauser Bluesrockkapellen, ungarische Jazzrockcombos oder die Innerschweizer Progrocker Flame Dream, die Gedichte über die vier Elemente vertonten – ich hab sie alle (und mehr) gesehen. Wählerisch konntest du nicht sein. Auch nicht, was die Locations betraf.
Neben dem «Chäller» existierten in den Quartieren noch zwei, drei «Treffs», unter den Fittichen der Kirche und so. Das liess ich grad ganz bleiben. Und sonst? Die «Bronx»-Bar der Brüder Rosa kam 1981 dazu. Und im «Marco Polo» an der Peripherie der Altstadt gegen den Rhein tummelten sich auf einem bodenlappengrossen Floor die Popper, viele von ihnen Italo-Secondos, mit ihren Kämmen in der Arschtasche zu erstaunlich hippem Discozeugs und rauchten Muratti Ambassador. Aber Disco und Murattis durfte man als Post-Punk wie meinereiner nur heimlich gut finden.
Und klar, es gab das «Domino» – diese leicht unheimliche, schwer versiffte Bestie von Bar.
Meine ältere Schwester war dort in ihrer wilden Phase Stammgast und erzählte Geschichten von prügelnden Thurgauer Rockercliquen, Halbtoten auf dem WC mit der Spritze im Arm und rabiaten Eisenlegern mit selbst gestochenen Tattoos. Einer von ihnen, nennen wir ihn Lupo, setzte sich einst an jenes wacklige, kackbraune «Domino»-Tischli, an dem ich mich gerade an einem Spezli festhielt. Irgendwann klirrte es. Einer petzt:
Lupo drehte sich zu mir, seine Unterarme so dick wie meine Oberschenkel, nur mit Muskeln:
Das Personal kam angerannt, sie kannten ihn besser als ich:
Ich grinste, sekündlich verzweifelter:
Lupo sah das anders:
Nach einigem Hin und Her sah ich nicht Blut, aber plötzlich Sterne – der stadtbekannte Randalierer hatte mir eine gekachelt. Belämmert blieb ich einfach neben ihm sitzen, kurz darauf hatte ich seine Pranke auf meiner Schulter: «Weisch, ha grad Puff mit de Altä dihei, mosch mi verschtoh, chomm, ich lad di uf e Grosses ii.» Dazu lief wie jeden Abend «Papa Was A Rolling Stone», und auf dem Minifloor vor DJ Antons Pult regierten Ausdruckstanz und Schnauz.
Lupos härtester Konkurrent im Hartsein war der Zürihans. Der federte schon mal in die Schaffhauser Genossenschaftsbeiz «Fass», die mein zweites Zuhause werden sollte, umarmte die schwere Registrierkasse auf dem Tresen mit beiden Armen und marschierte damit raus in den Schnee. Einfach, weil er es konnte.
Im «Fass» begann dann Tabula zu arbeiten, einer der legendären Thaynger Punks, und mischte mit grandiosen Mixkassetten (Abwärts, B-52s, Dead Kennedys, Wirtschaftswunder pp.), die er zum Servieren laufen liess, die GenossInnen auf. Ich, well: genoss das.
Bereits am Nachmittag des ersten grösseren Punkkonzerts Ende 1980 lungerten in den Gassen der «Munotstadt» (Sascha Ruefer) seltsame Gestalten aus der halben Schweiz und dem grenznahen Deutschland rum, mit selbst gepinselten «Exploited»-Schriftzügen auf Lederjacken, Stachelhaaren und Bier. Am Konzert im «Chäller» mit Crazy, TNT und Mother’s Ruin gings her und zu: Pogo, Pöbeleien, Biergespritze, die ganzen Rituale waren neu, auf eine raue Art sehr lustig, sehr energetisch und sehr verwirrend. Verstörung und frischer Wind – das ging also auch hier.
Schaffhausen brannte zwar nicht gerade – aber es kokelte doch ein wenig.
PS: Danke allen, die mir mit Infos aus der Zeit geholfen haben oder in ihre Archive gestiegen sind und mir Fotodokumente zur Verfügung stellten (damals liess man ganz offensichtlich öfter mal sein Smartphone zu Hause, wenn man im Ausgang steil ging): Leo Bei, Florian Glaszer, Tom Krailing, Ralph Wiegandt, Hausi Naef, Urs Rattin, Urs Brauchli, Bruno «Tabula» Tanner, Sandro Rosa, Bruno und Eric Bührer, Peter Greutmann, Manuela Hanke, Gabriel Gmür, Regi Fischer, Mirjam Böhm (Stadtarchiv SH), Elisabeth Christina Conrad, Bruno Sternegg und alle, die ich vergessen habe.