Lausanne, Sommer 1969. Ich war in den Ferien bei meiner Mum und ihrem neuen Partner Jean-Paul. Weit unten rauschte leise der Verkehr der Avenue de Morges. Wir sassen auf dem Balkon im 5. Stock des Wohnblocks, fixiert auf ein ganz anderes Rauschen. Es kam aus dem Transistorradio auf dem Tischchen und war – magisch:
Am Nachthimmel hing ein halber Mond und leuchtete heller als sonst. Sie hatten mich geweckt, und weil sie keinen Fernseher hatten, hörten wir Neil Armstrong und Buzz Aldrin am Radio zu, wie sie aus der Mondlandefähre stiegen und erste Schritte in eine neue Welt machten. Dieses Rauschen, überlagert von atmosphärischen Störungen und dem Live-Kommentar des Westschweizer Radios, war für mich das schönste Geräusch der Welt. Und je länger ich siebenjähriger Furzel gleichzeitig hörte und Richtung Mond schaute, desto sicherer war ich, dass ich die beiden Männer dort oben auch: sah.
Ich sah sie in der pudrigen Oberfläche ihre Stiefelspuren hinterlassen, sah, wie sie kleine Hüpfer machten und die Flagge der USA in den Boden rammten. Die Welt war aufregend, die Zukunft war golden und sie war: jetzt!
Denn auch abgesehen von der Mondlandung machten wir grosse Schritte in neue Welten. Transistoren, Farb-TV, die Boeing 747, Computer, Teflonpfannen und Kassettenrecorder – neue Technik veränderte unseren Alltag.
Nicht nur neue Technik: Aus dem Zimmer meiner älteren Schwester hörte ich Musik, die mich aus dem Mief des Elternhauses wegkatapultierte. Jimi Hendrix, The Who, Led Zeppelin, Black Sabbath. Eher die Antithese zu den Jodelchor-Platten meiner Stiefmutter und den paar Marschmusik-LPs meines Dads. Verzerrte Gitarren und brachiale Grooves, verspacte Stimmen, ausufernde Soli:
Selbst in Neuhausen am Rheinfall, wo ich asozialsiert wurde, begannen die älteren Jungs in der Nachbarschaft, sich die Haare wachsen zu lassen, frisierten stattdessen ihre Puch Maxis und schraubten Chopperlenker drauf – Easy Riders im Kaff. Diese «Beatles», «Haschfixer» und «Hippies» nervten die Älteren so sehr, dass sie mich einfach interessieren mussten.
Wie wenig später auch all die Typen in Glitzerklamotten und mit Schminke im Gesicht, mit denen ich mein Zimmer tapezierte und deren Musik ich auf Vinyl durchsichtig hörte:
Erst viele Jahre später ging mir auf, dass ich damals keinen Anfang, sondern das Ende einer Epoche mitbekommen hatte: Das Ende der optimistischen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Menschen in Europa erst damit beschäftigt waren, all das Zerstörte wegzuräumen und wiederaufzubauen – und dann einfach weitermachten. Eine Zeit, die man als «Wirtschaftswunder» verklären sollte.
Der Wohlstand stieg unaufhörlich – zumindest im Herzen der Ersten Welt. Es ging vorwärts, aber richtig: Die Wirtschaft brummte wie der Boxermotor des jedes Mal etwas teureren VW-Modells, das sich mein Vater alle paar Jahre anschaffte. Die Menschen fuhren im Auto quer durch Europa, Sommerferien in Rimini!
1968 war gekommen, hatte von Revolution geredet und stellte Hierarchien, Autoritäten, Grenzen infrage. Ein bisschen dieser utopischen Energie schwappte aus Studentenkreisen bis in unseren Alltag. Alles klar: Eine bessere, schönere, aufregendere Welt war möglich! War zum Greifen nah!
Als Kind hatte ich zwar keine Ahnung von Geschichte, aber ich bekam die Euphorie-Vibes der Erwachsenen mit – nicht nur während Neil Armstrong und Buzz Aldrin auf dem Mond herumspazierten. Ich war zufällig an einem superprivilegierten Ort in diesen kleinen Ausschnitt der Weltgeschichte hineingeplumpst, in dem sich die Zukunft präsentierte wie ewig leuchtendes Morgenrot, über das sich ein Regenbogen aus MDMA-Dampf spannt.
Als der Nachrichtensprecher auf Radio Beromünster während unseres familiären Abendessens im Herbst 1973 erzählte, die Organisation erdölexportierender Länder (Opec) drossle ihre Ölfördermenge, sah ich das Gesicht meines Vaters entgleisen. Ich begriff nichts von den politischen Hintergründen, aber ich sah an seiner Mimik: Jetzt passiert etwas Unvorstellbares. Zuerst einmal gab es – lustig! – autofreie Sonntage.
Aber eigentlich wurde jeglicher Zukunftseuphorie buchstäblich der Saft abgedreht. Die Erste Welt merkte, wie sehr sie abhängig war vom Rest, vom Öl vor allem, diesem Wirtschaftswunder-Gleitmittel. Neue Begriffe tauchten auf: Energiesparen, Grenzen des Wachstums, Umweltschutz, Rezession. Alles tönte nicht mehr ganz so glamourös.
Damals ging ein Vorhang zu und blieb zu. Die Zukunft wurde mehr und mehr zu einem Schreckensort: Das atomare Wettrüsten spitzte sich zu, Tschernobyl, Kriege in Ex-Jugoslawien, Tschetschenien, Afghanistan, dem Irak und an vielen anderen Orten, Aids tauchte auf, es gab (und gibt) Nationalismus, Terrorismus, die al-Kaida, 9/11, Fukushima, den «IS», Donald Trump.
Ist, was ich erlebte, einfach mit der «naiven» Sicht eines Kindes auf die Welt zu erklären? Ich weiss es nicht. Ich vermute: nicht nur. Aber ich frage mich oft, wie sich «die Zukunft» heute anfühlt für ein Kind oder einen Teenager im Schweizer Mittelland (bis heute ein scheissprivilegierter Ort). Ist dort alles möglich? Ist es besser als hier und jetzt?