Der Fall sorgte landesweit für Entsetzen: Ein Berner Sozialtherapeut zog fast 30 Jahre lang von Heim zu Heim und missbrauchte über 100 Menschen, die fast alle geistig oder körperlich schwer behindert waren. Der Mann habe sich für seine Taten gezielt Behinderte ausgesucht, die nicht sprechen konnten, teilten die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Bern damals im Jahr 2011 mit.
Es handelte sich um einen Extremfall. Doch sexuelle Übergriffe auf Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung sind ein verbreitetes Problem – und zwar in weit höherem Ausmass als bei Menschen ohne Behinderungen: Frauen mit einer kognitiven oder körperlichen Beeinträchtigung werden zwei bis dreimal häufiger Opfer von sexueller Gewalt als nicht behinderte Frauen. Dies zeigen verschiedene Studien und Befragungen aus dem In- und Ausland.
Gerade jetzt, nachdem viele Fälle sexueller Belästigungen im Zuge der #MeToo-Debatte an die Öffentlichkeit gerieten, wirkt die Zahl umso erschreckender. Behindertenorganisationen und Opferberatungsstellen sind sich des Problems bewusst. Doch den Weg in die Medien und in das Bewusstsein der Gesellschaft fand die Thematik auch innerhalb der letzten Wochen und Monaten nicht.
Matthias Spalinger koordiniert die Fachstelle Prävention von Gewalt und sexueller Ausbeutung des Verbands für anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie. Er sagt: «Die weltweit grosse Beachtung für das Thema der sexuellen Grenzverleztungen ist in letzter Zeit durch Äusserungen von Stars und prominenten Persönlichkeiten stark gewachsen. Gleiche Äusserungen von Menschen mit einer Behinderung weltweit hätten wohl nicht dasselbe Echo ausgelöst.»
Dabei würden dahinter im Grunde die selben Problematiken stecken wie in Hollywood: «Bei sexueller Gewalt gegenüber Behinderten spielen auch Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse eine grosse Rolle.»
Spalinger vermutet, vielen Menschen sei auch heute noch gar nicht bewusst, dass Personen mit einer Beeinträchtigung ebenfalls sexuelle Wesen sind. Spalinger: «Ich bin überzeugt, viele denken, es könne gar nicht sein, dass Behinderte sexuell belästigt werden.»
Dabei seien Menschen mit Behinderungen potenziell besonders gefährdet. Spalinger: «Ein Täter sucht sich sein Umfeld aus. Und da ist es sicher von Vorteil, wenn er keine Angst haben muss, dass die Person etwas ausplaudert oder sich wehrt.» Dies sei besonders bei geistig beeinträchtigten Personen der Fall.
Menschen mit körperlicher Behinderung seien zwar auch stark von sexuellen Übergriffen betroffen, so Spalinger, doch sie hätten mehr Möglichkeiten, sich Hilfe zu suchen. Wichtig ist ihm anzufügen, dass auch bei Männern mit geistiger Behinderung das Risiko von sexueller Gewalt stark erhöht sei.
Barbara Dettwiler von Vista – Fachstelle Opferhilfe bei sexueller und häuslicher Gewalt, hat jahrelang Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung betreut. Sie sagt: «Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich hoch.» Viele Betroffene würden sich möglicherweise nicht melden, weil sie nicht über die Angebote informiert sind, oder auch keine Möglichkeit haben, sich Unterstützung zu holen. «Auch möglich ist, dass sie sich nicht bewusst sind, dass eine bestimmte Berührung eine Belästigung war.»
Oft fehle es den Frauen an Aufklärung, sagt Dettwiler: «Man hat ihnen nie erklärt, welche Berührungen oder Gesten in Ordnung sind und was nicht. Sexuelle Aufklärung ist bereits an sich ein heikles Thema – und bei Menschen mit Behinderung noch viel mehr.»
Bei Frauen mit geistiger wie körperlicher Beeinträchtigung sei auch die Abhängigkeit von Bezugspersonen ein Problem. Dettwiler: «Durch gewisse Pflegehandlungen wird der Umgang mit Nähe und Distanz gestört. Für sie wird es dann schwierig einzuschätzen, dass etwas eigentlich nicht sein sollte.» Zentral sei deshalb gute Prävention und ein offener Umgang mit Sexualität.
Laut einer im Jahr 2015 erschienenen Studie der Berner Fachhochschule für Wirtschaft, Gesundheit und Soziale Arbeit finden Behinderte bei sexuellem Missbrauch kaum kompetente Hilfe. Hierzulande bieten nur gerade drei Opferhilfe-Beratungsstellen fachkompetente Hilfe für Menschen mit Behinderungen an, die Opfer sexueller Gewalt werden, zitierte der «Tages-Anzeiger» aus der Studie.
Überdies sind die Beratungsstellen nur in einzelnen Kantonen tätig. In den übrigen Kantonen gibt es zwar einerseits Stellen, die sich auf das Thema sexuelle Gewalt spezialisiert haben, aber keine Fachkompetenz im Umgang mit Menschen mit Behinderung haben und umgekehrt, schreiben die Autoren der Studie.
Auch Matthias Spalinger plädiert für mehr Prävention. In zahlreichen Institutionen werde heute bereits viel Wert auf Sensibilisierung und Weiterbildung der Mitarbeiter gelegt. Dabei sei es jedoch wichtig, dass die Verantwortung nicht einfach den Behinderten übergeben werde: «Denn gewisse Menschen werden sich nie selber wirksam wehren können.»
Um damit richtig umgehen zu können, müssten auch Fachstellen und Opferberatungen stärker für die Kommunikationsmöglichkeiten und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen sensibilisiert werden, so Spalinger. «In den letzten paar Jahren hat es in diesem Bereich viele Fortschritte gegeben.» Doch es handele sich um Prozesse, die nicht von heute auf morgen passieren. «Es gibt sicher noch viel Verbesserungspotenzial – aber die wichtigen Schritte sind im Gange,» sagt er.