Die «Financial Times» ist das Organ der Wirtschaft, Jeremy Corbyn gilt als ultralinker Spinner. Es ist daher eher unüblich, wenn der Vorsitzende der Labour Partei von der «Financial Times» gelobt wird. Genau das ist nun der Fall. Labour befinde sich jetzt «solide im Lager der Wirtschaft und fordere die Regierung heraus, sich weiter auf den Weg des Pragmatismus zu begeben», kommentiert das Blatt heute wohlwollend. Wie kommt das?
Am Sonntag hat die Labour-Partei eine überraschende Kehrtwende bekannt gegeben. Sie wolle sich nun dafür einsetzen, dass das Vereinigte Königreich (VK) während der Übergangsphase, ja vielleicht gar permanent, ein Mitglied des europäischen Binnenmarktes und der Zollunion bleibt, liess die Partei verlauten. Bisher haben sich die Linken, wenn überhaupt, nur lauwarm zur Brexit-Frage geäussert.
Nun aber grenzt sich Labour klar von den Konservativen ab. Tory-Chefin und Premierministerin Theresa May hat sich bisher stets mit markigen Sprüchen – «lieber keinen Deal als einen schlechten Deal» – für einen harten Brexit, will heissen, für einen radikalen Austritt des VK aus der EU ausgesprochen.
Die Kehrtwende der Labour-Partei ist nicht nur überraschend, sie birgt auch Gefahren. Rund ein Drittel ihrer Wähler haben für den Brexit gestimmt, vor allem die älteren Menschen in den heruntergekommenen Industriestädten. Auch Corbyn hat wenig Liebe für die EU übrig. Er betrachtet die europäische Einheit als neoliberales Konstrukt der Kapitalisten zur Ausbeutung der Arbeiterklasse.
Nun hat Corbyn offenbar seine Meinung geändert. Grund dafür sind die Gewerkschaften. Sie besitzen einen grossen Einfluss innerhalb der Labour-Partei und haben erkannt, dass der Brexit verheerende Folgen auf die Arbeitswelt hätte. In der Autoindustrie etwa besteht die Gefahr, dass ohne einen reibungsfreien Export zehntausende von Jobs verloren gingen. Toyota, Nissan, Skoda Co. würde ihre Werke auf der Insel schliessen und die Fabriken auf den Kontinent verlegen.
Die Kehrtwende bringt aber vor allem die Tories und Theresa May in Nöte. Sie sind sich in der Brexit-Frage ebenfalls uneinig. Schatzkanzler Philip Hammond plädiert ebenfalls für einen weichen Brexit und dafür, dass das VK in der Übergangsphase die Spielregeln der EU weiter akzeptiert. Er stellt sich damit gegen die harte Fraktion innerhalb der Tories, die einen klaren Bruch fordert, koste es, was es wolle.
Nach dem Wahldebakel im Juni verfügen die Konservativen nur noch über eine hauchdünne Mehrheit im Parlament. Finden liberale Tories und Labour in der Brexit-Frage zusammen, dann wird ein weicher Brexit immer wahrscheinlicher. Will heissen: Das VK akzeptiert noch längere Zeit die Regeln der EU.
Das bedeutet, dass der Albtraum der Konservativen Wirklichkeit wird. Grossbritannien wird zu einem kastrierten EU-Mitglied. Es muss alle Pflichten einhalten, hat aber seine Mitsprache-Rechte verloren. Selbstverständlich muss das VK weiterhin in den Brüsseler Ausgleichsfonds einzahlen, den freien Personenverkehr akzeptieren und sich den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes beugen.
Heute hat eine neue Runde der Verhandlungen zwischen dem VK und der EU begonnen. Es geht dabei um die Höhe der Scheidungsabfindung, den Betrag, den die Briten bei einem Austritt zu zahlen haben, und wie die Grenze auf der irischen Insel geregelt werden soll. Michel Barnier, Chef der EU-Delegation, hat klar gemacht, dass diese Fragen geklärt sein müssen, bevor ernsthaft über neue Spielregeln verhandelt werden kann.