Wie viel die Essen! Es scheint, als schlüge das Herz des Hongkong-Kinos in einem riesigen Garküchentopf. Liebende flirten mit der behänden Geheimsprache der Stäbchen, je besser ein Gericht schmeckt, desto schneller bricht ein Herz, und von den unzähligen Fights, die das Hongkong-Kino so energetisch machen, beginnen enorm viele in Restaurants und deren Küchen. Gerade hat Condé Nast Hongkong zur Welthauptstadt aller Foodies gekürt. Das passt.
Je weiter weg von zuhause so ein Hongkong-Film spielt, desto wichtiger ist das Essen: In der Action-Komödie «Wheels on Meals» (1984) betreibt Jackie Chan mit allen akrobatischen Mitteln einen Imbisswagen in Barcelona. Der Film, der sowohl in der Gastronomie als auch in der Psychiatrie herumspinnt, durfte übrigens nicht «Meals on Wheels» heissen, was Sinn gemacht hätte, denn zuvor hatten ein paar Hongkong-Filme, die mit «M» begannen, gefloppt.
In «An Autumn's Tale» (1987) von Mabel Cheung heisst es: «Ein Land ist so gut wie seine Leute und die Leute so gut wie ihr Essen.» Der Film spielt in Chinatown in New York, eigentlich möchte eine junge Frau dort die Schauspielschule besuchen, doch schnell verlagert sich die Liebesgeschichte unter Exilchinesen aufs Kochen, Essen, Grillieren, Kellnern und Eröffnen eines Traumrestaurants. Essen stiftet Identität. Und Gemeinschaft.
Und was tun die (zum Teil) enorm gut aussehenden Bodyguards eines Multimillionärs in «The Mission» (1999) von Johnnie To, wenn sie nicht gerade elegant und brutal angreifen oder einander tot machen? Sie beugen sich in der Millionärsvilla über Reisschälchen, egal zu welcher Tageszeit. Wenn sie essen, sind sie friedlich. Und in «Autumn Moon» von Clara Law clashen die Sehnsucht einer 15-Jährigen nach MacDonald's mit den Kochkünsten ihrer 80-jährigen Grossmutter.
Als 2001 «In the Mood for Love» von Wong Kar Wai mit der verrückt schönen Maggie Cheung in unsere Kinos kam, da beschrieb der Regisseur die Triebfeder seiner melancholischen Liebesgeschichte im Hongkong der 60er-Jahre so: «Der Reiskocher hat unsere Frauen befreit. Instant-Nudeln änderten unser Leben. Vorher mussten wir gemeinsam essen. Jetzt können wir allein essen.» Die Instant-Nudel als Grund der Vereinsamung also. Wahrscheinlich gibt es in Hongkong für jede Stimmungslage eine Essmetapher. Für jeden Mood einen Food.
Aber was ist denn nun eigentlich das Hongkong-Kino? Etwas Grosses. Etwas Riesengrosses. China besitzt aktuell die zweitgrösste Filmindustrie nach Hollywood, und Prognosen besagen, dass es bis 2019 die grösste sein könnte. Und diejenigen, die das chinesische Kino für ein universales Publikum attraktiv machen, kommen alle aus Hongkong.
Die grossen Namen des Hongkong-Kinos sind Diven wie Maggie Cheung und Michelle Yeoh (das toughe Bondgirl in «Tomorrow Never Dies»), Action-Stars wie Bruce Lee und Jackie Chan, der lustige Chow Yun-Fat, der schöne Tony Leung, Regisseure wie Wong Kar Wai, Johnnie To oder John Woo («Mission: Impossible 2»). Quentin Tarantino und Martin Scorsese sind nur zwei, die massgeblich von ihnen beeinflusst wurden, «The Departed» von Scorsese ist ein Remake des Hongkong-Klassikers «Infernal Affairs».
Dass es existiert und viel Geld mit vielen Filmen macht, das nahm die Welt zum ersten Mal Anfang der 70er-Jahre mit den Martial-Arts-Filmen von Bruce Lee so richtig wahr. Dass es neben Kämpfen und Komödie auch noch anders kann, wurde ab den 80er-Jahren bis zur Rückgabe der letzten britischen Kronkolonie an China am 1. Juli 1997 so richtig klar. Seither stehen auch Hongkongs Filmschaffende wieder unter der Fuchtel von China.
Auseinandersetzungen mit den chinesischen Behörden führten etwa dazu, dass Wong Kar-Wai «In the Mood for Love» 1999 nicht wie geplant in Peking drehte, sondern in dem damals noch für kurze Zeit von den Portugiesen verwalteten Macau. Und in Bangkok. Das alte Hongkong, das im Film so verzaubert scheint, ist eine fiktive Collage.
Doch in den kostbaren Jahren der Hochblüte, da war in Hongkong alles möglich. Neben hochgradig überdrehtem Kultquatsch wie «Heroic Trio» – Maggie Cheung, Michelle Yeoh und Anita Mui befreien als Superheldinnen eine Stadt von einer Monsterhexe, die unter der Erde entführte Kinder zu Killermaschinen macht – waren auch krasse Sozialdramen möglich.
«Made in Hongkong» ist eins davon, Fruit Chan drehte es 1997, in den letzten Monaten von Hongkong als westlicher Enklave. Aus dem Radio ertönt eine Mao-Rede an die blühende Jugend, auf der alle Hoffnung ruht. Die Realität dagegen ist rau: Teenager sind drogensüchtig, kriminell oder todkrank, Geldeintreiberbanden machen alleinerziehende Mütter fertig, alle rechnen mit allen ab, ein unbekanntes Mädchen stürzt sich vom Wolkenkratzer. Trotzdem entwickelt sich eine rührende Liebesgeschichte, doch dann wird alles entsetzlich traurig, und zurück bleibt ein verwitterter Friedhof am Rande Hongkongs. Als wären all die Hochhäuser der Stadt in sich zusammengesunken.
Bei allen Ambitionen in Richtung Arthouse war das Hongkong-Kino immer schon ein Unterhaltungskino. Eines für die Massen und die Kassen. Eines, das bei allen exquisiten Schwertkampf-Choreografien, fallenden Blütenblättern und sehnsüchtigen Blicken schöner Frauen auch zur Sache geht. Gewalt ist Gewalt und wird gezeigt. Sehr genau. Sex eher nicht. Es wird viel getötet, gelacht, geflucht und gegessen. Ein handfestes Kino. Und auch für feinere Filme wie «Made in Hongkong» und «An Autumn's Tale» gilt: Du darfst nicht langweilen!
Ach ja, zwei grosse Krisen gab es im Hongkong-Kino: Die eine hiess «Jurassic Park» und schlug eine schlimme Kerbe ins Selbstbewusstsein der Kinostadt, denn zum ersten Mal überhaupt stand 1993 wegen Stephen Spielbergs Saurierspektakel kein Hongkong-Film an der Spitze der lokalen Charts. Die andere hiess SARS, die Angst vor der Infektionskrankheit leerte 2003 sämtliche Kinosäle und brachte die gesamte Filmproduktion für vier Monate zum Erliegen.
Und sonst? Jackie Chan sagt heute, dass jede Kritik am Heimatland eine Beschmutzung Chinas sei. Egal, ob sie zuhause oder im Ausland geäussert werde. Ältere Regisseure wenden sich gegen die Aktivisten der Umbrella-Bewegung von 2014. Die Auflösung der einstigen Kinowundertüte in ein totalitäres System ist schmerzhaft. All die verfolgten Kulturschaffenden Chinas sind Abschreckung genug. Wie gut, dass man so einer feinen Peking-Ente im Film ihre politische Orientierung nicht ansehen kann.