Ex-Nato-Kommandeur sagt, wie ein russischer Angriff aussehen könnte
Die andauernden Provokationen Russlands gegenüber dem Westen lassen Ängste vor einem militärischen Konflikt wachsen. US-Präsident Donald Trump hat bereits sein Einverständnis zum Abschuss von russischen Flugzeugen im Nato-Raum gegeben. Jetzt hat ein ehemaliger Nato-General ein mögliches Szenario entwickelt, wie Russland einen Krieg auslösen könnte, der die Nato einbezieht.
Richard Shirreff war stellvertretender alliierter Nato-Oberkommandierender in Europa. In der britischen «Daily Mail» skizziert er, wie ein Konflikt in Europa beginnen und wie er sich weltweit ausweiten könne. Die Nato könnte nach seinen Überlegungen dabei vor allem politisch massiv geschwächt werden.
In seinem Szenario kommt es zunächst zu Stromausfällen in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Bald folgen Blackouts in den benachbarten Staaten Lettland und Estland. Als Ursache wird ein Hackerangriff angegeben, möglicherweise aus Russland. In den Ländern wird der Ausnahmezustand erklärt, es kommt zu Unruhen.
Szenario: Schüsse an der Suwałki-Lücke
Einen Tag später, so Shirreffs düsteres Bild einer möglichen Eskalation, kommt es auch zu Problemen in den Stromnetzen von Grossbritannien, Frankreich und Deutschland. Der russische Präsident Putin kündigt dann an, wegen der Unruhen nach den Stromausfällen in Litauen Truppen in der Enklave Kaliningrad an die Grenze zum Nachbarland zu verlegen. Der russische Aussenminister Sergei Lawrow erklärt, bedrohten russischen Bürgern in Litauen helfen zu wollen. Kurz darauf kommt es in Shirreffs Szenario zu einem Vorfall an der Suwałki-Lücke, einem engen Korridor zwischen Kaliningrad und Belarus. Polnische Soldaten feuern auf unbekannte Milizen, die von dort geschossen haben. Ein Nato-Soldat stirbt.
Shirreff befürchtet Uneinigkeit in der Nato
Für Shirreff wäre ein solches Scharmützel ein möglicher Grund für den russischen Präsidenten Putin, einen Angriff auf Russland zu erklären und eine Invasion auf die Suwałki-Lücke anzuordnen. Diese würde die Landverbindung der Nato zu den baltischen Staaten schliessen. Das hat in seiner Vorstellung zur Folge, dass die Nato den Artikel 5 ihrer Charta verwendet und den Verteidigungsfall auslöst.
Dieses Szenario ist nicht aus der Luft gegriffen. 2022 betonte der damalige Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr, Generalleutnant Bernd Schütt, die Wichtigkeit der Region. «Im Bereich der Suwałki-Lücke ist es nur ein kurzer Sprung, und dort ist die Gefahr einer Testung des Verteidigungswillens und der -fähigkeit der Nato relativ gross. In diesem Raum kann man relativ schnell Truppen verlegen und dann zum Beispiel unter Einsatz von Luftlandetruppen einen ersten Stoss durchführen», sagte Schütt.
Nato könnte sich zögerlich zeigen
Allerdings sieht Shirreff in einem solchen Fall Probleme innerhalb des Bündnisses: So spielt in seinem Konzept die US-Regierung den Vorfall herunter, Grossbritannien will keine Kampfjets schicken, auch Polen zögert mit Luftangriffen. Am dritten Tag der Krise greift dann Russland Nato-Truppen in Litauen an, darunter auch deutsche Soldaten. Doch aus den USA kommt in seinem Modell keine Hilfe: US-Präsident nennt in Shirreffs Szenario auf Truth Social Litauen einen «Failed state» und verweist auf einen Telefonanruf mit Putin. In Vilnius rücken russische Truppen ein.
Würde China die Gelegenheit nutzen?
Eine solche Krise könnte, so der General, für China eine Gelegenheit sein, in Taiwan einzumarschieren. Er zeichnet das Bild von Hunderttausenden chinesischen Soldaten, die den Inselstaat attackieren. Shirreff geht davon aus, dass die USA und die westlichen Verbündeten in einem solchen Fall nicht eingreifen würden. Die USA haben in der Vergangenheit Taiwan zwar militärische Hilfe zugesagt, aber keine Truppen im Falle eines Angriffs.
«In nur fünf Tagen hat sich das globale Machtgefüge radikal verändert. China hat sich den lange angestrebten Preis gesichert. Russland hat die endgültige Eroberung der Ukraine garantiert und begonnen, die baltischen Staaten zurückzuerobern. Die Nato ist zerfallen», resümiert der Nato-General seine Projektion. Der Brite, der den königlichen Titel Sir erhalten hat, hatte bereits 2016 in einem Buch vor einem russischen Angriff auf die baltischen Staaten gewarnt und darin die Nato-Führung als zu schwach für eine entsprechende Antwort bezeichnet.
Mit seinen Ansichten ist er nicht alleine. Nachdem russische Drohnen vor Kurzem beim Angriff auf die Ukraine in den polnischen Luftraum eingedrungen und dort minutenlang in der Luft waren, bevor sie von Kampfjets abgeschossen wurden, hatte es Kritik an der Reaktion der Nato gegeben. So warnte der CDU-Politiker Thomas Röwekamp, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses im Bundestag, bei Radioeins vor einer unzureichenden militärischen Ausstattung der Nato und Deutschlands. Die Abwehr sei zwar gelungen, doch die eingesetzten Mittel seien teuer und nicht skalierbar für grössere Angriffe.