Ist Ignazio Cassis eine Niete? Das sehen nicht alle so
Auf dem Flughafen Zürich kam es am Samstag zu einem denkwürdigen Ereignis: Die USA und der Iran tauschten zwei Gefangene aus. Die Wahl der Örtlichkeit war kein Zufall. Die Schweiz vertritt seit 40 Jahren die Interessen der USA in Teheran. Sie hat im Hintergrund tatkräftig mitgeholfen, diesen Moment der Entspannung zwischen zwei verfeindeten Staaten zu ermöglichen.
Beide Länder bedankten sich bei der Schweiz für die geleisteten Dienste. Edward McMullen, der US-Botschafter in Bern, lobte im Westschweizer Fernsehen die «grossartige Arbeit» der Schweiz – und des zuständigen Bundesrats Ignazio Cassis. Dieser sei «einer der engagiertesten Aussenminister», mit denen er je zusammengearbeitet habe, «ein echter Leader», so McMullen.
Man staunte. Meinte er tatsächlich jenen Cassis, der in der Schweiz seit Monaten in der Kritik steht? Den Grünen-Präsidentin Regula Rytz explizit ins Visier genommen hat, um ihren Anspruch auf einen Sitz im Bundesrat durchzusetzen? Dem manche ganz offen die Abwahl wünschten und der nun, da diese unwahrscheinlich geworden ist, zumindest das Departement wechseln soll?
Nervös und angespannt
Mag sein, dass Ed McMullen ihm mit seiner Lobeshymne einen Gefallen tun wollte. Es wäre jedoch nicht das erste Mal, dass ein Schweizer Aussenminister im Ausland besser ankommt als auf heimischem Terrain, wo vorab Rechtsbürgerliche bis heute der Maxime aus dem Kalten Krieg nachhängen, wonach die beste Aussenpolitik für die Schweiz gar keine Aussenpolitik sei.
Die Kritik an seiner Amtsführung und die Möglichkeit eine Abwahl haben Ignazio Cassis nicht kalt gelassen. Der Tessiner Freisinnige verwies in Interviews auf seine Herkunft und den Anspruch der italienischen Schweiz auf eine Vertretung im Bundesrat. Bei Auftritten wirkte er nervös und angespannt, so Anfang November am Jubiläumsfest «10 Jahre Forum Aussenpolitik» in Bern.
Der von Studenten gegründete Thinktank Foraus setzt sich für eine offene und international engagierte Schweiz ein. Cassis sprach somit vor einem ihm keineswegs feindlich gesinnten Publikum. Dennoch hinterliess er bei der Vorstellung seiner «Aussenpolitischen Vision 2028» einen unsicheren Eindruck. Erst beim Apéro löste sich die Anspannung.
Wie ein Popstar gefeiert – neuer Bundesrat im Tessin
Das Abwahl-Gespenst dürfte inzwischen gebannt sein, der Angriff der Grünen ins Leere laufen. Mit einem «Denkzettel» bei der Gesamterneuerungswahl am Mittwoch muss Cassis trotzdem rechnen, denn mit seiner Amtsführung ist kaum jemand zufrieden. So publizierte die «Republik» eine Recherche, in der überwiegend anonyme «Heckenschützen» zu Wort kommen.
Die Aussenpolitik umgekrempelt
Einiges wirkt aufgebauscht, anderes hat einen realen Hintergrund. Schon bei seiner Wahl vor zwei Jahren sorgte der 58-jährige Tessiner für Irritationen. Wenige Tage zuvor war er der Waffenlobby Pro Tell beigetreten, ein durchschaubarer Versuch, sich bei der SVP anzubiedern. Kurz darauf trat er wieder aus. Ein ähnliches Manöver war die Rückgabe seiner italienischen Staatsbürgerschaft.
Im Aussendepartement setzte der Mediziner rasch neue Akzente. «Niemand hat die Schweizer Aussenpolitik jemals in so kurzer Zeit so grundlegend umgekrempelt wie Ignazio Cassis», schrieb die «Republik» und unterstellte ihm ein Powerplay «gegen die eigenen Diplomaten, gegen seine Bundesratskolleginnen, gegen bewährte Werte der Schweizer Aussenpolitik».
Unbedachte Aussagen
Das wirkt polemisch, doch mit Cassis weht im EDA, das während Jahrzehnten von Mitte-links-Bundesräten geführt worden war, tatsächlich ein neuer Wind. Mit einigen unbedachten Aussagen lieferte er seinen Kritikern und Gegnern jede Menge Munition:
- Im Mai 2018 nahm er sich das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) vor und behauptete, es sei gleichzeitig Teil der Lösung und Teil des Problems. Falsch lag er damit nicht, doch er hinterfragte auch die während Jahrzehnten gültige Schweizer Nahost-Politik, was ihm einen Rüffel des damaligen Bundespräsidenten Alain Berset eintrug.
- Anfang 2019 besuchte er während einer Afrika-Reise eine Kupfermine des umstrittenen Zuger Rohstoffkonzerns Glencore in Sambia. Dabei setzte er einen Tweet ab, in dem er die Bemühungen zur Modernisierung der Anlagen und zur Schulbildung lobte. Glencore liess sich nicht zweimal bitten und nutzte Cassis' Besuch für eine bezahlte Kampagne auf Twitter.
- Bürgerliche und Wirtschaft verärgerte das EDA, als es die Nidwaldner Pilatus-Werke im Juni mit Verweis auf das so genannte Söldnergesetz anwies, die Wartung der nach Saudi-Arabien und in die Vereinigten Arabischen Emirate gelieferten PC-21-Flugzeuge einzustellen, weil beide Länder in den Jemen-Krieg verwickelt sind. Dank einem Rekurs kann Pilatus vorerst weiter dort tätig sein.
Das mit Abstand meiste Geschirr aber zerschlug der Aussenminister im Juni 2018, als er in einem Radiointerview die vom Bundesrat definierten «roten Linien» in den Verhandlungen mit der Europäischen Union in Frage stellte. Bei den flankierende Massnahmen gegen Lohndumping müssten die Schweiz und die EU bereit sein, «über den eigenen Schatten zu springen», so Cassis.
Sololäufe nach Tessiner Art
Auch hier gilt: In der Sache lag er nicht falsch, doch die Tonalität kam schlecht an. Ihm wohlgesinnte Kreise begründen seinen Hang zu verbalen Sololäufen mit der Tessiner Herkunft. Tatsächlich wird im Südkanton, beeinflusst durch Italien, ein rustikaler Politikstil praktiziert, inklusive Hang zur «Polemica». Nördlich des Gotthards gibt es dafür wenig Verständnis.
Fest steht, dass das von Ignazio Cassis und Europa-Staatssekretär Roberto Balzaretti ausgehandelte Rahmenabkommen blockiert und ein Ausweg nicht in Sicht ist. Dabei hat sich Cassis im Gegensatz zu seinem zunehmend entrückten Vorgänger Didier Burkhalter in der Europapolitik wirklich engagiert. Landauf, landab verweist er in Vorträgen auf die Bedeutung der bilateralen Verträge für die Schweiz.
Er will zehn Jahre bleiben
Für Kritiker wie den EU-skeptischen früheren SP-Nationalrat und Preisüberwacher Rudolf Strahm ist klar, dass nur die Abwahl von Cassis oder zumindest ein Departementswechsel die Europa-Debatte entkrampfen kann. Fragt sich nur, ob ein anderes Mitglied des Bundesrats bereit ist, das heisse Eisen anzufassen. Die Erfahrungen der letzten Monate lassen daran zweifeln.
Ignazio Cassis gibt sich unverdrossen. Er wolle Aussenminister bleiben und beabsichtige, «diesen Job mindestens zehn Jahre zu machen», sagte er dem «Sonntagsblick». Falls man ihn lässt, wird er sich steigern müssen. Eine Gelegenheit ergibt sich zu Beginn des nächsten Jahres. Dann wolle er dem Bundesrat seine aussenpolitische Strategie vorlegen, kündigte er am Foraus-Fest an.
