Der junge Mann, der einen Inder hätte ermorden sollen, war ein Niemand. Bis zum Schluss blieb er nur ein Phantom. Im Genfer Polizeigericht sass er abgeschirmt in einem Nebenraum, seine verfremdete Stimme drang seltsam blechern aus den Lautsprechern. Selbst die Richter bekamen ihn nicht zu Gesicht. Gebucht worden war er als Auftragskiller, für einen indischen Restaurantchef hätte er einen Konkurrenten aus dem Weg schaffen sollen. Trotzdem stand er lediglich als Zeuge vor Gericht. Angeklagt war allein der Restaurantchef.
Denn der Mann war ein verdeckter Ermittler der Kantonspolizei Genf, ein Lockvogel mit dem Decknamen «Rio». Seine Tarnung war gut. «Rio» trug einen echten Pass auf einen falschen Namen bei sich. Damit hatte er zwei Identitäten: eine als Ermittler und eine als angeblicher Auftragskiller, beide ausgestattet mit den nötigen Papieren.
Die kantonalen Polizeikorps und die Bundespolizei lassen Mitarbeiter mit Tarnpässen undercover ermitteln, gleiches tut der Nachrichtendienst. Dafür braucht es in der Regel eine gerichtliche Genehmigung. Wer als verdeckter Ermittler arbeitet, muss nicht zwingend Polizist sein. Selbst Ausländer kommen infrage.
Verdeckt ermittelt werden darf gemäss der Strafprozessordnung nur bei sehr schweren Straftaten wie Drogenschmuggel oder Geldwäscherei. Verbindungsleute und Spitzel erhalten eine Tarnidentität, um kriminelle Milieus zu infiltrieren.
Doch wie viele Tarnpässe schweizweit im Umlauf sind, bleibt unter Verschluss. Zu deren Zahl könne man «aus Sicherheitsüberlegungen» nichts sagen, heisst es beim Justizdepartement auf Anfrage der «Nordwestschweiz». Aus diesem Grund gebe es auch keine spezielle Statistik dafür.
Unklar ist überdies, wo und wie viele verdeckte Ermittler im Einsatz stehen. Entsprechende Daten sind nicht zugänglich. Die Sicherheitsbehörden des Bundes schweigen dazu, ebenso die Kantonspolizeien. Die angefragten Korps verweigern die Auskunft. «Aus ermittlungstaktischen Gründen» würden keine Zahlen veröffentlicht, sagt etwa Esther Surber von der Kantonspolizei Zürich. Mal ist die Rede von Sicherheitsbedenken, mal von «heiklen Informationen». Offen zeigt sich einzig die Kantonspolizei Aargau. Das Korps arbeitet laut Sprecher Bernhard Graser nicht mit verdeckten Ermittlern.
Mit anderen Worten: Die Öffentlichkeit kann sich nicht einmal eine Vorstellung machen, in welchem Ausmass die Schweizer Strafbehörden auf verdeckte Ermittlungen setzen.
Die unechten Identitäten sind das eine, die damit verbundenen Konsequenzen das andere. Theoretisch könnten die Besitzer zweier Identitäten sogar zweimal abstimmen gehen: einmal auf ihren echten Namen, ein zweites Mal mit ihren Tarnpapieren. Auch Missbräuche sind nicht ausgeschlossen. In Deutschland wurde ein Beamter des Nachrichtendienstes wegen Betrugs verurteilt – die Tat beging er unter seiner falschen Identität.
Hierzulande sorgte der Fall von Oskar Holenweger für Aufsehen. Der Bankier wurde 2011 vom Verdacht der Geldwäscherei freigesprochen. Das Bundesstrafgericht kritisierte den «teils unverhältnismässigen Einsatz» von verdeckten Ermittlern mit Tarnidentitäten, um sich in Holenwegers Umfeld einzuschleusen.
Gering ist der Wille zur Transparenz auch bei anderen Fragen. So sagen die Sicherheitsbehörden nichts dazu, wie verdeckte Ermittler rekrutiert werden. Der Fahnder einer Deutschschweizer Kantonspolizei bestätigt: Meist würden «Verdeckte» von aussen angeworben, weil sie am jeweiligen Ort noch keine Spuren hinterlassen hätten. Am liebsten arbeite man mit familiär ungebundenen Personen. Gerade der Aufbau falscher Identitäten ist aufwendig.
Wer weiss darüber Bescheid, wie viele falsche Pässe auf echte Namen in der Schweiz ausgestellt werden? «Zusätzliche Identitäten», wie es im Amtsjargon heisst, werden im Personenstandsregister verzeichnet. Nur ein eingeschränkter Personenkreis kann gemäss dem Justizdepartement auf diese Informationen zugreifen. Näher will man sich nicht äussern. Die Grundlagen von «zusätzlichen Identitäten» werden in der Zivilstandsverordnung geregelt, die derzeit revidiert wird.
Noch ist unklar, ob die Öffentlichkeit dereinst mehr über den Umfang von verdeckten Ermittlungen erfahren soll. Vorerst werden entsprechende Fälle nur ruchbar, wenn sie in einem Gerichtsprozess zur Sprache kommen. Wie bei «Rio», dem falschen Auftragsmörder von Genf.