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Das Experiment schlägt fehl: Der Steinkohlenteer, mit dem der Chemiker Constantin Fahlberg hantiert, kocht über und verursachte eine Schweinerei. Nachdem Fahlberg sie aufgeputzt hat, geht er frustriert nach Hause. Beim Nachtessen merkt er, dass das Brot, das er in der Hand hält, sonderbar süss schmeckt. Später realisiert er, dass er im Labor eine neue chemische Verbindung mit ungeahnter Süsskraft entdeckt hat. Heute ist sie bekannt als Saccharin.
Fahlberg versucht erfolglos, seine 1878 gemachte Entdeckung zu vermarkten. Das Problem: Der Stoff ist so süss, dass man die Menge für eine Tasse Tee kaum dosieren kann. Das grosse Potenzial von Saccharin – und anderen künstlichen Süssstoffen wie Aspartam – zeigt sich erst rund ein Jahrhundert später, als die Menschen mangels Bewegung im Alltag dick werden. Denn für den süssen Geschmack ist bloss ein kleines bisschen des Stoffes nötig, sodass sich der Zucker (fast) kalorienlos ersetzen lässt. Und so konsumieren heute figurenbewusste Frauen, fitnessbegeisterte Machos und drahtige Manager statt der gezuckerten Süssgetränke am liebsten Coke Zero.
Zur letzten Kategorie gehört auch Theo van Uffelen. Der grossgewachsene Holländer ist bei Coca-Cola als Marketingdirektor für Europa zuständig. «Coca-Cola Zero ist einer unserer grössten Erfolge der letzten Jahrzehnte», sagt der Manager im europäischen Hauptsitz in Brüssel. «Es ist eine zuckerlose Cola, die fast wie die Original-Coca-Cola schmeckt.» Entwickelt wurde sie in einem Cola-Labor von Dutzenden von Food-Technikern, die Geschmacksstoffe und Säuren neu zusammengemischt haben.
Ein solches Labor gibt es auch hier in Brüssel – dem grössten Entwicklungsstandort des Getränkeherstellers ausserhalb der USA. Hinter Glasscheiben arbeiten Männer und Frauen in langen, weissen Kitteln und mixen Flüssigkeiten und Pülverchen zusammen. 4000 verschiedene Geschmacksstoffe lagern im Labor – daraus sollen neue Getränke entstehen. Neue Fantas, neue Sprites, neue Energiedrinks, neue Colas. Irgendwas, das der Masse schmeckt. Wie Coca-Cola Zero eben.
Nirgends in Europa kommt Coke Zero so gut an wie in der Schweiz. Die 2007 eingeführte zuckerfreie Coca-Cola Zero macht hierzulande bereits 28 Prozent des gesamten Coca-Cola-Konsums aus. Das ist rund dreimal mehr als in Österreich und Deutschland. Zwar wird auch in der Schweiz die normale Cola am meisten getrunken, die Light-Variante hat die neue zuckerlose Cola aber bereits überholt. «Neukonsumenten, die sich für eine kalorienlose Coca-Cola entscheiden, wählen fast immer Coke Zero», weiss Joëlle Vock, Markenverantwortliche für Coca-Cola Zero und Coca-Cola Light in Zentral- und Südeuropa. Warum mögen Schweizer Coke Zero so sehr? Vermutlich, weil Schweizer sehr gesundheitsbewusst und gut informiert seien, glaubt Joëlle Vock.
Googelt man im Internet, kann man schnell zur gegenteiligen Meinung kommen. Coca-Cola Zero verursache Krebs, besagt eine Vielzahl von alarmierenden Berichten, auf die man schnell stösst. Andere meinen, dass Coke Zero erst recht dick macht. Klingt absurd bei einem kalorienfreien Getränk, die Erklärung ist aber nicht unplausibel.
Sobald die Geschmacksrezeptoren die Süsse spüren, bereitet sich der Körper in einer Art Vorfreude auf die Zulieferung von Glukose vor. Diese ist in Zucker, aber nicht in künstlichen Süssstoffen wie Aspartam enthalten. Als Folge davon wird Insulin ausgeschüttet, was den Blutzuckerspiegel absacken lässt, da ja gar keine Glukose zugeführt worden ist. Die Folgen sind Hungergefühle. Kurzum: Coca-Cola Zero hat zwar keine Kalorien, führt aber dazu, dass man nach dem Konsum viel eher ein Stück Schokoladenkuchen nachschiebt. So lautet die Erklärung. Doch stimmt das wirklich?
«Diese Annahme sitzt in vielen Köpfen tief», sagt Anne Raben, Professorin für Ernährungswissenschaften an der Universität Kopenhagen. «Doch keine in den letzten 25 Jahren durchgeführte Studie konnte sie bestätigen.» Aktuelle Forschungsergebnisse deuten sogar daraufhin, dass Coca-Cola Zero und Co. bei der Gewichtsreduktion helfen können. Raben hat eine Studie gemacht, in der die Probanden zufällig zehn Wochen lang täglich eine zuckerhaltige Limonade oder eine künstlich gesüsste kalorienlose Limonade zum Trinken bekamen. Die meisten Teilnehmer, welche die künstlich gesüssten Getränke konsumierten, nahmen im Verlauf der Studie entweder leicht ab oder behielten ihr ursprüngliches Gewicht.
Die Ergebnisse ihrer Studie hat Raben letzten Monat an einer wissenschaftlichen Konferenz vorgestellt, die von der International Sweetener Association organisiert wurde. Diese Vereinigung für künstliche Süssstoffe wird unter anderem von Coca-Cola gesponsert – kritische Ergebnisse sind da nicht zu erwarten.
Doch andere Experten teilen die Auffassung, dass Coke Zero und Light-Getränke keine Dickmacher sind. «Künstliche Süssstoffe führen in der Regel nicht dazu, dass man mehr Kalorien in der Nahrung zu sich nimmt», sagt etwa die Ernährungswissenschafterin Isabelle Aeberli von der ETH Zürich. Auf Zustimmung trifft man ebenfalls, wenn man die Experten der Zürcher Hochschule der Angewandten Wissenschaften (ZHAW) oder der Universität Wien anfragt.
Einig sind sich die meisten Fachleute mittlerweile auch, dass das lange verschriene Aspartam, das Coca-Cola Zero süss macht, nicht krebserregend ist. Eine kürzlich publizierte Neuevaluation der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) kommt zum Schluss, dass es keine Risiken für Aspartam gibt, wenn es im Rahmen der täglich zulässigen Menge konsumiert wird. Bei Tierversuchen mit Ratten konnte zwar ein schädlicher Effekt nachgewiesen werden, doch dieser stellt sich erst bei einer täglichen Dosis von 4 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht ein. «Um diese Menge zu erreichen, müssten Sie täglich mindestens 500 0,5-Liter-Flaschen Coca-Cola Zero trinken», rechnet Georg Hofmann, Professor für Ernährungswissenschaften an der Universität Wien, vor.
Fazit: Von Coca-Cola Zero werden wir nicht dick und bekommen keinen Krebs. Dennoch nehmen in den letzten dreissig Jahren – also seit es zuckerlose Süssgetränke gibt – sowohl Übergewicht als auch Krebs massiv zu. In der Schweiz sind 40 Prozent übergewichtig – und damit gehören die Schweizer noch zu den schlanksten Europäern. Betrachtet man den ganzen Kontinent, so ist bereits jeder Zweite übergewichtig. 63 Prozent bewegen sich zu wenig; 22 Prozent fast gar nicht mehr. 15 der 20 häufigsten Krankheiten stehen in Zusammenhang mit falscher Ernährung oder mangelnder Aktivität.
«Künstlich gesüsste Getränke sind sicher kein Wundermittel», sagt Isabelle Aeberli. Sie könnten zwar helfen, das Gewicht zu kontrollieren, doch viel wichtiger seien eine ausgewogene Ernährung sowie ausreichend Bewegung. Und auch wenn Coke Zero und Co. in moderaten Mengen nicht schädlich ist, gesund sind künstlich gesüsste Getränke aber wegen der darin enthaltenen Säuren für den Körper und insbesondere für die Zähne dennoch nicht. Die richtige Antwort auf die Frage «Soll ich normale Cola oder Coke Zero trinken?» müsste also folglich lauten: «Weder noch: Trinken Sie Wasser.»
Nun will die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auch noch ihre Empfehlungen zum Zuckerkonsum massiv nach unten korrigieren. Setzt sich die neue Richtlinie durch, so sollen normalgewichtige Menschen täglich nicht mehr als sechs Teelöffel Zucker zu sich nehmen. In einer einzigen 3,3-Deziliter-Dose Cola steckt mehr Zucker, nämlich etwa acht Teelöffel.
In der Tat folgen diesem Rat immer mehr Menschen: In den USA, dem Coca-Cola-Land schlechthin, steigt der Konsum von Mineralwasser in den letzten 20 Jahren stetig an, während jener von Softdrinks seit rund einem Jahrzehnt sinkt. Die First Lady Michelle Obama persönlich führt eine Gesundheitskampagne an, die dazu aufruft, mehr Wasser statt Cola zu trinken. Der frühere Bürgermeister von New York, Michael Bloomberg, versuchte die Grösse von Cola-Trinkbechern zu begrenzen – nicht mehr als 4,7 Deziliter sollten sie fassen. Das bekannteste Süssgetränk verliert an Renommee. Jahrelang war Coca-Cola die wertvollste Marke der Welt – bis die Firma letztes Jahr von den Technik-Giganten Google und Apple überholt wurde.
Die Nervosität im europäischen Hauptquartier ist spürbar. Das können die freundlich lächelnden Cola-Mitarbeiter nicht verbergen, wenn sie an einem der vielen Automaten im Gebäude ihre Lieblingscola herauslassen. In einem der oberen Stockwerke steht ein Versuchslabor, das sich mit neuen Automatentechnologien beschäftigt. Bei einem Prototyp muss man bloss noch auf das gewünschte Getränk zeigen und es wird von einem Roboterarm bereitgestellt – kein mühsames Knöpfedrücken. Einen anderen Apparat, den man sich in Zukunft einmal bei McDonald’s vorstellen könnte, lässt es zu, dass man Geschmacksrichtung und Mischungsverhältnis verschiedener Coca-Cola-Getränke selber bestimmen kann. Seine individuelle Mischung hat man auf dem Smartphone im Voraus zusammengestellt; tritt man an den Automaten, braucht man bloss noch das Handy an ein Lesegerät zu halten, schon sprudelt die personalisierte Cola in die Becher.
Ob diese Ideen Coca-Cola helfen, wieder zu wachsen? Auf jeden Fall ist die Einsicht da, dass gehandelt werden muss. Kein Risiko einzugehen, sei das grösste Risiko, meint der Marketing-Manager Theo van Uffelen und nimmt einen Schluck Cola Zero aus einer 2,5-Deziliter-PET-Flasche. Das ist die erste Handlungsmassnahme, die Coca-Cola demnächst umsetzen will: kleinere Flaschen. Man wolle sich damit den Bedürfnissen der Kunden anpassen, sagt van Uffelen. In Wahrheit will man wohl eher den Forderungen der Kritiker nachkommen, um ihnen weniger Angriffsfläche zu bieten.
Die zweite Handlungsmassnahme zeigt sich in neuen Werbekampagnen: Anstatt bloss Werbung bei grossen Sportveranstaltungen zu schalten, will man die Konsumenten selber zum Sporttreiben bringen. «The happier we feel the more we move», lautete die Botschaft eines neuen Werbespots von Coca-Cola, der demnächst ausgestrahlt werden soll. Darin sind lauter glückliche Menschen zu sehen, die sich bewegen. Sie tanzen, rennen oder spielen Basketball. Sie schwitzen dabei nicht und haben keine verzerrten Gesichter. Denn Bewegung ist nicht Anstrengung, sondern Ausdruck eines Gefühls von Happiness. Sie trinken nicht Coke Zero, sondern die zuckerhaltige Coca-Cola. Denn eine Cola macht nicht dick, sondern verleiht Energie. Eine Dose Coca-Cola hat «139 calories of happiness».
Am Ende der Filmvorführung sagt van Uffelen: «Bewegung ist für die Gesundheit wichtig. Coca-Cola setzt sich dafür ein, dass sich die Menschen mehr bewegen.» Das ist natürlich schönfärberisch. In Wahrheit geht es darum, dass sich die Menschen mehr bewegen, um ungeniert mehr Cola konsumieren zu können. Die Firma Coca-Cola war schon immer eine Meisterin der Vermarktung. Und mit dieser Strategie soll auch die drohende Krise überwunden werden.
Dieser Artikel erschien zuerst in der «Schweiz am Sonntag»