«Wie dumm und einfältig muss man sein, um einer Sekte auf den Leim zu kriechen.» Solche und ähnliche Kommentare bekomme ich oft zu hören, wenn ich über problematische Gruppen und Bewegungen aufkläre.
Eine solche Haltung zeugt von Ignoranz, denn sektenhafte Indoktrination ist ein perfides Instrument, um Menschen anzulocken, zu täuschen und schliesslich zu vereinnahmen. Ausserdem geht gern vergessen, wie leichtgläubig und beeinflussbar wir Menschen sind. Gerade Leute, die sich als unantastbar fühlen und geben, sind oft unachtsam und können leicht auf dem falschen Fuss erwischt werden.
Wer nun glaubt, ich würde übertreiben, sollte sich gelegentlich für ein paar Tage ans Beratungstelefon von Infosekta setzen. Er würde bald erfahren, dass viele Sektenanhänger alles andere als blöd sind. Was die Ignoranten auch erleben würden: Von jedem Sektenschicksal sind nicht nur die Mitglieder oder Aussteiger betroffen, sondern auch die Angehörigen. Diese leiden oft in einer Weise mit, als habe ihnen der Arzt die Diagnose einer schweren Krankheit mitgeteilt.
Der Besucher würde auf der Zürcher Beratungsstelle ausserdem mitbekommen, dass die Sektenproblematik kein marginales Problem ist, sondern viele Leute betrifft. Wenn man alle problematischen Gruppen und Kirchen zusammennimmt, kommt man auf schätzungsweise 300‘000 Mitglieder. Und mindestens doppelt so viele Angehörige. Entsprechend oft klingelt das Telefon von Infosekta. 2020 nahmen fast 3000 Mal Ratsuchende Kontakt mit der Beratungsstelle auf, wie im neuen Jahresbericht nachzulesen ist.
Im Editorial schreibt das Infosekta-Team:
Mit welchen Anliegen sich Angehörige an Infosakta wenden und was sie tun können, beschreibt die Infosekta-Leiterin im Artikel mit dem bezeichnenden Titel: «Mit der COVID-Impfung wird ein Mikrochip injiziert, um die Menschen zu überwachen».
Im Jahresbericht erwähnt Infosekta ein wegweisendes Urteil im Prozess, den die Zeugen Jehovas gegen die ehemalige Mitarbeiterin von Infosekta, Regina Spiess, angestrengt hatte. Die Sektenexpertin hatte in einem Interview und einer Medienmitteilung schwere Vorwürfe an die Adresse der Zeugen erhoben.
Darin kritisierte sie unter anderem die mangelhafte Aufklärung von sexuellen Übergriffen innerhalb der Glaubensgemeinschaft, die Zwei-Zeugen-Regel (Opfer müssen zwei Zeugen für den Missbrauch aufbringen) und die Ächtung von Ausgestossenen und Ausgestiegenen, selbst wenn sie noch minderjährig sind.
Die Zeugen Jehovas hatten Regina Spiess wegen übler Nachrede eingeklagt, sie verloren aber in allen Anklagepunkten vor dem Bezirksgericht Zürich. Das Urteil wurde im letzten Jahr rechtskräftig.
Spannend im Jahresbericht ist speziell der Rückblick auf 30 Jahre Sektengeschichte. Er zeigt, wie radikal sich die Sektenlandschaft und die spirituellen Bedürfnisse der Gesellschaft in den drei Jahrzehnten verändert haben. Einzig Scientology und die Zeugen Jehovas blieben sich treu und zierten stets die unrühmliche Hitliste der Beratungsstelle. Bei ihr sind in dieser Zeit 49‘000 Anfragen eingegangen und Kontakte entstanden.
Wie sieht die Statistik der Beratungen im Jahr 2020 aus? Mit grossem Vorsprung führen die Zeugen Jehovas (18 %) die «Hitliste» an, gefolgt von den Scientologen (4 %). An dritter Stelle fungiert Daniel Eberle, der unter dem Geistnamen Shumbra als Channeling-Medium tätig war und heute KO-Kommunikation und Mentaltraining anbietet.
Ehemalige Kursteilnehmende und Familienangehörige berichteten laut Infosekte von grosser Abhängigkeit, schweren seelischen Krisen und Kontaktabbrüchen. Es folgen Anfragen zu QAnon (Verschwörungserzählung), die Freikirche ICF und die spirituelle Kirschblütengemeinschaft, die Drogentherapien durchführt.
Die Zahl der Beratungen ist in den letzten fünf Jahren von knapp 2300 auf beinahe 3000 angestiegen. Dies ist ein Indiz, dass sich die Sektenlandschaft ausgeweitet hat – entgegen der landläufigen Meinung.
Insgesamt 47 % der Anfragen sind dem christlichen, 26 % dem esoterischen und 22 % dem weltanschaulichen oder säkularen Umfeld zuzuordnen. Bei den Organisationen mit christlichem Hintergrund handelt es sich bei 42 % um evangelikale Gemeinden, bei 19 % um die Zeugen Jehovas und bei 39 % um andere christliche Gruppen.
Die Hunderten von Sekten sorgen dafür, dass Infosekta die Arbeit nicht ausgeht. Leider.