Hugo Stamm, Sie haben nach mehreren Sachbüchern den Roman «Späte Erlösung» geschrieben. Ist das Ihr Fazit nach jahrzehntelangem Kampf gegen Sekten?
Hugo Stamm: Heute erreicht man mit kritischen Sachbüchern über Sekten und Esoterik keine breite Leserschaft mehr. Mit dem Roman versuche ich, auf unterhaltsame und spannende Art Aufklärung zu betreiben. Die fiktionale Geschichte spielt im Esoterik-Milieu, enthält aber auch authentische Passagen aus dem Blickwinkel der ahnungslosen Hauptfigur. Ich hoffe, mit dem Roman neue Leserkreise ansprechen und sensibilisieren zu können.
Wieso lässt das Interesse an Sektenthemen nach?
In den Medien sind Sektenthemen weitgehend out. Die Sekten haben die schädliche Kritik an ihren Methoden analysiert und gelernt, die Menschen eher mit subtilen psychologischen Techniken abhängig zu machen und weniger mit Hilfe der Repression. Das hat dazu geführt, dass es heute weniger spektakuläre Sektengeschichten gibt. Ausserdem haben grossen Sekten heute eher Mühe bei der Missionierung. Die Summe der spirituellen und der religiösen Bedürfnisse ist aber nicht kleiner geworden. Die schwammige Esoterik hat vieles aufgesaugt.
So dass Aufklärung weiterhin nötig ist?
Ja. Ausserdem zielt meine Arbeit über das Sektenthema hinaus. Mein Hauptaugenmerk gilt der Aufklärung über Aberglauben und Indoktrinationssysteme. Es geht mir um die Förderung der geistigen Autonomie und eines offenen Bewusstseins. Ich glaube, dass wir nur mit einem rationalen Bewusstsein und nüchterner Analyse das Chaos auf der Welt einigermassen in den Griff bekommen. Der Glaube hat dabei durchaus Platz, aber das säkulare und das religiöse Weltbild sollte man nicht vermischen. Sonst besteht die Gefahr, dass man irrationale Ideen im Alltag aufnimmt und anfällig wird für Scharlatane.
Ist das von Ihnen so genannte Chaos auf der Welt nicht ein Resultat der Rationalität, der man sich bedingungslos unterwirft und die unverbrüchlich an sich selbst glaubt?
Das ist richtig. Aber rationale Konzepte sollten immer nach wissenschaftlichen Erkenntnissen suchen und sich an den Kriterien der Vernunft orientieren. Sie sollten von der eigenen Angst und Sehnsucht abstrahieren, so dass man zu sozial verträglichen Lösungen kommt. Ich glaube vielmehr, dass es trotz der Rationalität so viel Chaos gibt. Ohne gäbe es wohl noch viel mehr.
Nun gibt es von Hans Küng das «Projekt Weltethos» mit dem Kernsatz «Kein Friede unter den Nationen ohne Friede unter den Religionen». Ist das nun ein rationales oder ein esoterisches Konzept?
Das Projekt hat auch mit Glauben zu tun, aber nicht mit einem Absolutheitsanspruch. Jede Religion lebt vom Absolutheitsanspruch. Das führt zu vielen Konflikten. Sobald der Mensch das Gefühl hat, er habe die einzige Wahrheit gefunden, läuft er Gefahr, sich zu radikalisieren. Das färbt auf seine Psyche und sein Bewusstsein ab. Wir müssen einen pluralistischen Ansatz wählen. Jeder Absolutheitsanspruch ist Gift für den sozialen Zusammenhalt.
Vor rund 20 Jahren haben wir uns zum letzten Mal gesehen. Da sprachen wir über Ihren Kampf unter anderem gegen Scientology und andere Sekten wie Uriellas «Fiat Lux». Was hat sich seither geändert?
Die Sektenlandschaft hat sich in den letzen Jahren pulversiert.
Es gibt die von Ihnen so sehr bekämpften grossen Blöcke in der Sektenlandschaft nicht mehr?
Es gibt sie schon noch, doch die haben etwas an Bedeutung verloren. Für mich hat diese Veränderung etwas mit dem religiösen und spirituellen Lifestyle zu tun. Dieser hat sich parallel zur Individualisierung und Globalisierung entwickelt. Die Menschen haben die Wellness-Kultur verinnerlicht. Man will nicht mehr in der grossen Masse wie etwa bei Scientology, Bhagwan oder Uriella einem Führer oder Guru lauschen, sondern man möchte sich individuell vom spirituellen Meister berühren lassen. Früher war das Kollektiv wichtig, heute will man ein persönlich zurechtgeschustertes Heilskonzept. Dafür ist man bereit, viel Geld zu bezahlen. Es gibt aktuell eine riesige Vielfalt von Gruppierungen, die aus dem esoterischen Gedankengut schöpfen. Dieses hat sich in den letzten 20 Jahren explosionsartig über weite Teile der Welt verbreitet. Für mich ist Esoterik die erste eigentliche Weltreligion. Speziell daran ist, dass es sich bei der Esoterik um keine geschlossene Gruppe mit einem einzelnen Guru handelt, sondern es gibt gemäss unserem Konsumverhalten ganz viele verschiedene Konzepte und Zirkel.
Aber doch wohl nur für die, die es sich finanziell leisten können?
Ja. Die Esoteriker haben – abgesehen von muslimisch geprägten Ländern – alle spirituellen Konzepte weltweit unter einem Dach zusammengerafft. Daraus hat man ein Grundkonzept gemacht, wo sich jeder bedienen kann. Die Hauptfaszination besteht darin, dass es sich um ein Instantrezept der Selbsterlösung handelt. Der Einzelne trägt das Göttliche angeblich in sich und kann erleuchtet werden.
Wie soll Selbsterlösung eigentlich funktionieren, wenn ich mich dafür in die Abhängigkeit eines Gurus begeben muss?
Es ist eine Illusion, was die meisten irgendwann erkennen, aber nicht zugeben können. Vor allem dann, wenn die alten Probleme sie wieder einholen.
Und dann?
Dann wird ihnen gesagt: «Es liegt nicht am System, nicht am Guru, nicht an der Methode. Du hast Misserfolg, weil du blockiert bist.» Ich kenne viele solche Fälle. Den Klienten wird eingeredet: «Dein skeptischer Freund, deine Eltern oder dein Lebenspartner behindern dich mit ihren negativen Energien und Schwingungen. Du musst dich von diesen Personen trennen.» Ich erlebte bei den Beratungen viele Ehen, die deswegen auseinander gebrochen sind. Die Betroffenen sind dann verunsichert, das Bewusstsein wird entkernt. Deshalb müssen sie sich erst recht dem spirituellen Meister unterordnen.
Und wenn ich kein Geld habe?
Diejenigen, die wenig Geld haben, können sich auch den Luxus nicht leisten, sich die Seele auf diese Weise massieren zu lassen.
Wer begibt sich denn in solche Abhängigkeiten?
Für mich ist das der Ausdruck einer grossen Anspruchs- und Konsumhaltung. Man hat so hohe Erwartungen an das Leben und an die Welt, dass man seine Sehnsüchte ins Transzendente transponiert. Demut und Bescheidenheit, die in spirituellen und esoterischen Kreisen gepredigt werden, bleiben hohle Worte und werden nicht umgesetzt. Der Anspruch, erleuchtet zu werden, steht dabei im Gegensatz zum christlichen Glauben, wo man glauben und hoffen muss, um erlöst zu werden. In der Esoterik dagegen gibt es einen Machbarkeitswahn und eine Selbstvergottung.
Jesus sagt: «Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.» Die Kirchen müssten Zulauf haben. Warum haben sie das nicht?
Die christliche Heilslehre verlangt sehr viel. Die Aussicht, in das Reich Gottes einzugehen, bleibt eine Hoffnung, eine Gewissheit gibt es nicht. Diese hohen Anforderungen entsprechen nicht mehr unserem Zeitgeist.
Und wer sich Esoteriklehren verschreibt, bekommt Gewissheit?
Nein, im Gegenteil. Aber Esoteriker glauben es. In der Esoterik ist alles möglich, kaum etwas wird hinterfragt. Übersinnliche Botschaften aus dem Jenseits werden als absolut und wahr akzeptiert. Kritik wäre ja ein Zeichen einer Blockade und würde die spirituelle Entwicklung hindern. Diese Kritiklosigkeit führt vermeintlich zur totalen Befreiung. Die Selbstzweifel verschwinden, die Unsicherheit über die Zukunft ist weg. Doch das ist eine Selbsttäuschung.
Aufklärung scheint hier ins Leere zu laufen. Wie wird das in der Zukunft sein?
Ich bin überzeugt, dass der Siegeszug der Esoterik weitergeht. Es wird neue Formen geben, die sich den Zeiten anpassen. Es ist letztlich eine Frage der ökonomischen Entwicklung.
Je reicher die Menschheit, desto esoterischer?
Ja. Die Ansprüche steigen, und die Esoterik bedient das. Das fördert die Individualität, die Solidarität geht mit der Zeit verloren.
Wenn Sie auf Ihre jahrzehntelange aufklärerische Tätigkeit zurückblicken: Hat es sich gelohnt?
Ich frage nicht nach dem Nutzen, sondern nach dem Sinn.
Was ist denn der Sinn?
Journalistisch tätig zu sein in einem Bereich, in dem Aufklärung nötig ist, macht Sinn. Früher war die Öffentlichkeit sensibilisierter, meine Bücher erreichten hohe Auflagen. Heute hat man akzeptiert, dass Sekten zu unserer Gesellschaft gehören.
Entstehen denn auch jetzt noch Sekten?
Fast täglich. Aber es sind meist kleine. Viele Menschen wollen ihre spirituelle Entwicklung vorantreiben, absolvieren viele Kurse und Ausbildungen. Für viele ist ein normaler Job nur Zeitverschwendung im spirituellen Sinn. So reift ihr Wunsch, von der Esoterik zu leben. Das allerdings können nur die wenigsten, weil die Szene überlaufen ist. Diejenigen, die die spektakulärsten Versprechen machen und sich am besten verkaufen, sind am ehesten erfolgreich. Es ist oft wie auf einem Jahrmarkt.
Ist das nicht ein Schreckensszenario, das Sie da malen?
Ich glaube nicht, dass ich übertreibe. Mich interessiert die Esoterik seit 40 Jahren. Für mich sind viele esoterische Ideen abgehoben, realitätsfremd und unplausibel. Wer sie kritiklos in sein Weltbild integriert, entfremdet sich und wird autoritätsgläubig. Dann prägt der Aberglaube das Bewusstsein. Dies hat auch einen problematischen Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Weltbild.
Details zum Buch unter: hugostamm.ch