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Longevity: Das ewige Leben ersetzt Gott

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Künstliche Intelligenz kann Bilder wie dieses erstellen, vielleicht in Zukunft auch unser Hirn?Bild: Pixabay/Taras Yasinski mit KI
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Der Traum vom ewigen Leben wird dereinst wahr, doch wer will in einer Hirnfarm leben?

07.06.2025, 08:0007.06.2025, 08:00
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In jüngeren Jahren habe ich ältere Leute mitleidig belächelt, wenn sie jammerten und sagten, früher sei alles besser gewesen. Sie waren überfordert mit den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen. Um nur drei Beispiele zu nennen: Gleichstellung der Frauen, sexuelle Befreiung und wissenschaftliche und technische Fortschritte.

Heute ertappe ich mich oft selbst beim Gedanken, dass die Welt ein Tollhaus geworden ist und die Menschheit einer ungewissen Zukunft entgegensteuert. Kurz: Das Vertrauen in die Zukunft der Menschheit hat tiefe Risse bekommen. Oder andersherum: Früher, also vor etwa 20 Jahren, war vieles besser. Glaube ich heute.

Im Gegensatz zu meinen Vorfahren, denen jede Neuerung ein Graus war, habe ich konkrete Beobachtungen und Erkenntnisse, die mich skeptisch stimmen, was die Zukunft betrifft. Ich pflücke ein Beispiel aus dem grossen Strauss der existenziellen Umwälzungen in vielen Lebensbereichen aus: Die Longevity-Bewegung, die das Altern ausbremsen und dem Homo Sapiens das ewige Leben bescheren will.

Falls den Wissenschaftern dieses Kunststück dereinst gelingt - was ich für ziemlich sicher halte - ist Gott endgültig tot. Gleichzeitig werden Religionen überflüssig. Dann brauchen wir keine Religionsführer mehr, die uns ein Leben nach dem Tod versprechen. Dann haben der Himmel und das Paradies ausgedient. Dann ist die Welt übersät mit Milliarden von Göttern: Den Menschen.

Bewegung «Don't Die» auf Vormarsch

Ein prominenter Vertreter dieser Bewegung ist Bryan Johnson, ein 47-jähriger amerikanischer Multimillionär. Sein Lebensmotto: don‘t die, sterbe nicht. Er widmet sein Leben dem Traum, lang, sehr lang zu leben. Am liebsten ewig. Er scheut sich nicht, Longevity als die neue Religion zu propagieren. Eine Weltreligion. Johnson will mit seinen Verfahren und Produkten nicht nur den Alterungsprozess verlangsamen, sondern ihn möglichst bald umkehren. Altern war gestern, Jungbleiben ist heute.

Der Amerikaner hält Vorträge und hat bereits eine grosse Anhängerschaft. Er nennt seine Auftritte «Antitod-Aktivitäten». Seine Followerschaft besteht vermutlich primär aus egozentrischen Personen, für die der Tod eine narzisstische Kränkung ist. Johnson verneint die Frage eines Reporters von technologyreview.com, ob die Bewegung «don‘t die» seine Religion sei. Er sieht seine Mission als die Religion der Menschheit. Sie sei nicht gründerzentriert, sondern dezentralisiert. Alle könnten sie sich zu eigen machen. Gibt es demnach keinen Gott? „Wir spielen mit der Idee, dass unser Körper Gott ist“, sagt Johnson. Er wünscht sich, dass sich die «Gläubigen» in kleinen Gruppen treffen und Rituale und Mantras einüben. Aber auch über ihre Erfahrungen mit Longevity diskutieren und sich gegenseitig beim Prozess unterstützen. Quasi Gottesdienste am Küchentisch bei Kaffee und Kuchen. Oder eher mit Pillen und Gels, weil Koffein und Zucker das Leben verkürzen.

Es sei aber auch ok, wenn die Anhängerinnen und Anhänger an einen Gott glauben würden, ergänzt Johnson. Im Zentrum stehe die Idee, «dass keiner von uns jetzt sterben will». Er versucht, die Don't Die-Bewegung «in den nächsten 18 Monaten zur einflussreichsten Ideologie der Welt zu machen». Die grösste Gefahr sieht der Amerikaner nicht darin, dass ein ewiges Leben rasch zur Übervölkerung und zum Kollaps der Erde führen würde, sondern in der Künstlichen Intelligenz KI. Diese könnte die Menschheit manipulieren und unterjochen. Johnson sagt deshalb: «Wir müssen sicherstellen, dass die KI mit der Erhaltung der menschlichen Existenz in Einklang steht.»

Schaffen Forschende dereinst den «Hirn-Mensch»?

Schaut man die aktuellen wissenschaftlichen und medizinischen Errungenschaften an, droht der Menschheit aber nicht nur von der KI Ungemach, wie Johnson befürchtet, sondern noch von anderen Entwicklungen. Neurochirurgen, Hirnforscher, Klonexperten, Genspezialisten und Reproduktionsmediziner werden schon bald Erkenntnisse gewinnen und Techniken entwickeln, um in die Haut von Frankenstein zu schlüpfen. Die Gentechniker können die Gene von Eizellen oder Föten manipulieren und Designer-Babys züchten, Kloner werden Menschen reproduzieren, die sich ein Leben nach dem Tod auf der Erde wünschen.

Am meisten auf die Finger schauen müssen wir aber den Hirnforschern und Neurologen. Sie werden in nicht allzu weiter Zukunft beliebige Manipulationen am Hirn vornehmen können, die die Eigenschaften und die Identität der Menschen unheilvoll beeinflussen. Sogar die Transplantation einzelner Hirnareale ist dann nicht mehr Gegenstand von Science-Fiction-Romanen, sondern eine Technik, die Hirnchirurgen beherrschen werden. Vielleicht werden sich eines Tages Longevity-Fans ihr Hirn in den Schädel eines im Reagenzglas gezeugten jungen Menschen transplantieren lassen, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.

Spinnt man diese Horrorszenarien weiter, kommen wir zum virtuellen Menschen mit einem realen Hirn. Konkret: Das Hirn wird von Zauberlehrlingen entnommen und in einer Hirnfarm an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen, die die Zellen mit allen nötigen Stoffen versorgt. Gleichzeitig wird es verkabelt, um die verschiedenen Hirnregionen zu stimulieren und zu steuern. Somit kann der «Hirn-Mensch» die Welt erleben, wie wir dies heute in der realen Welt tun. Er wird alle Erlebnisse als völlig real empfinden und im Geist wie ein Vogel über die Berge fliegen oder mit einem Surfboard die höchsten Wellen reiten. Die Gefühle wird er als echt erleben.

Der «Hirn-Mensch» kann sich im Geist das Paradies auf Erden erschaffen. Und sich dabei als Gott fühlen. In einem Punkt hat Bryan Johnson mit seinen Longevity-Visionen recht: Bei all den Szenarien spielt KI eine wichtige Rolle. Wenn wir nicht weltweit strenge Regeln und Gesetze erlassen, die die Eingriffe in die Ursubstsanz menschlichen Lebens beschränken, wird die Zukunft der Menschheit düster aussehen. Wird es zu diesen vernunftsbestimmten Einschränkungen der Wissenschaften kommen? Allein mir fehlt der Glaube, wie Faust schon bei Goethe sagte.

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Hugo Stamm, Sektenblog
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Hugo Stamm
Glaube, Gott oder Gesundbetende – nichts ist ihm heilig: Religions-Blogger und Sekten-Kenner Hugo Stamm befasst sich seit den Siebzigerjahren mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanerie. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und berät Betroffene.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.

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    In der MILF-Falle
    Die gute Nachricht: Meine Lust auf Sex ist zurückgekommen. Die schlechte Nachricht: Sie ist direkt in eine Sackgasse gerannt.

    Für alle, die nur wegen des Sexes hier sind. Es gibt wieder Hoffnung, dass bald wieder darüber geschrieben wird. Denn: Mein Interesse daran ist zurück.

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