Im geistigen Programm von uns Menschen oder in unseren Genen scheint es eine Nische zu geben, in der Glaube und Religion angesiedelt sind. Diese These oder Vermutung drängt sich auf, weil alle Ethnien zu allen Zeiten und auf allen Erdteilen religiöse Bedürfnisse entwickelt und an Gott oder eine andere höhere Macht geglaubten haben. Und an eine irgendwie geartete Existenz nach dem Tod. Übersinnlichkeit und Transzendenz als eine Art anthropologische Konstante.
Dieses universelle Phänomen sehen Theologen und Geistliche als eine Art «Gottesbeweis»: Es kann doch kein Zufall sein, dass praktisch alle Menschen auf die Gottesidee kommen. Es muss sich folglich um ein Grundbedürfnis handeln, das möglicherweise in den Genen verankert ist. Quasi ein Gottesgen.
Evolutionsbiologen stellen die These hingegen in Frage. Sie lehren uns, dass genetische Entwicklungen einem Selektionsdruck folgen: Was zweckmässig ist und das Überleben fördert, wird gespeichert. Prägungen, die keinen zusätzlichen Nutzen bringen, werden ausgemerzt.
Aus dieser Warte ist die Fragestellung entscheidend, ob ein allfälliges «Gottes-Gen» einen evolutionären Nutzen generiert, also das Überleben erleichtert oder fördert. Die Frage muss verneint werden, denn die evolutionäre Entwicklung oder genetische Prägung ist primär an reale, sinnliche und erfahrbare Phänomene gebunden.
Wie lässt sich dann der Umstand erklären, dass indigene Völker in allen abgelegenen Weltgegenden ebenso einen Glauben entwickelt haben wie Menschen in hochzivilisierten Ländern?
Es gibt zwar einzelne Evolutionsbiologen, die vermuten, dass die natürliche Selektion bei Gruppen ähnlich funktioniert wie bei Individuen. Konkret: Fördert eine geistige Errungenschaft das Wohlergehen oder Überleben einer Gemeinschaft, prägt sie quasi das kollektive Bewusstsein und begünstigt eine evolutionäre Entwicklung.
Ihr zentrales Argument: Gläubige Gruppen hatten zumindest früher grössere Überlebenschancen. Und haben es zeitweise heute noch, wie die fundamentalistischen Strömungen im Islam mit ihren Missions- und Expansionserfolgen zeigen.
Der Glaube stiftet Sinn, Identität und das Zusammengehörigkeitsgefühl. Das ist tatsächlich ein Vorteil bei Expansionsbemühungen und kriegerischen Auseinandersetzungen. Wer für Gott in den Krieg zieht, ist besonders motiviert. Die islamischen Gotteskrieger und Selbstmordattentäter demonstrieren es uns fast täglich. Ihre Überzeugung, als Märtyrer in den Himmel zu kommen und 72 Jungfrauen zur permanenten Verfügung zu haben, ist die ultimative Motivationsspritze.
Viele Herrscher machten sich diesen Umstand zu Nutze und riefen zum heiligen Krieg auf, auch wenn sie rein politische Ziele verfolgten. Sie konnten gleichzeitig die Legitimation für ihr Gemetzel einer höheren Macht zuschreiben.
Die These von der evolutionären Gruppenselektion klingt zwar auf den ersten Blick plausibel, sie hat aber einen Haken: Es gibt keine Gruppen-DNA. Und das kollektive Bewusstsein ist aus wissenschaftlicher Sicht eine schwammige Grösse, die viel Interpretationsspielraum zulässt.
Es gibt eine plausiblere Erklärung für das Phänomen der flächendeckenden Verbreitung religiöser Bedürfnisse. Die Ursache ist in einem psychologischen oder pädagogischen Phänomen zu suchen.
Um dies herzuleiten, ist ein kleiner Exkurs nötig. Unsere Urahnen mussten alle physikalischen und astronomischen Aspekte übersinnlich erklären, weil ihnen die wissenschaftlichen Grundkenntnisse fehlten. Wenn es blitzte und donnerte, zürnten die Götter, und Krankheiten wurden durch Dämonen verursacht. Alle Naturvölker entwickelten aus Unkenntnis einen Glauben im religiösen Sinn – und unbewusst den Aberglauben. Zeugnis davon liefern die jahrtausendealten Monumente und Sakralbauten, die in allen Erdteilen gefunden wurden.
Hier kommt der psychologische Aspekt zum Tragen. Die Eltern haben ihre religiösen Überzeugungen ihren Kindern weitergegeben – von Generation zu Generation. Für Kleinkinder sind die Eltern allwissend und unfehlbar, denn ihre Erfahrungen und Ratschläge sind im evolutionären Sinn überlebenswichtig. Das gleiche gilt für fast alle Erwachsenen, speziell aber für Autoritätspersonen wie Geistliche. So übernehmen Kinder, die gezwungenermassen leichtgläubig sind, auch ihre religiösen Überzeugungen, ohne sie zu hinterfragen.
Diese geistige Prägung ist so stark, dass auch aufgeklärte Erwachsene weiterhin am Wunderglauben festhalten. Man denke nur an die unbefleckte Empfängnis, Marias Himmelfahrt, die Auferstehung von den Toten, die Arche Noah, die Teilung des Meeres und vieles mehr.
Diese These wird auch durch den Umstand nicht widerlegt, dass sich immer mehr Menschen in den hochzivilisierten Weltgegenden vom Glauben abwenden. Gäbe es eine evolutionäre Selektion in religiösen Aspekten, wäre dies nicht der Fall.
Noch wichtiger ist aber, dass in der globalisierten Welt der Glaube im religiösen Sinn keine Vorteile mehr bringt. Ausserdem setzen in der modernen Welt wissenschaftliche Erkenntnisse und Bildung den religiösen Konzepten zu. Im Weltbild vieler gebildeter Menschen hat die Religion keinen Platz mehr, weil ihre wundersamen Heilslehren schlicht nicht plausibel erscheinen. Kommt hinzu, dass religionskritische Texte und Bücher helfen, die kindliche Prägung zu durchschauen und zu überwinden.