Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Der Volksmund bringt es auf den Punkt. In der dunklen Zeit mit den kalten Tagen bringen Kerzen Licht in die Stuben und hellen die Gemüter auf, die vom Winterblues gebeutelt sind.
Auch viele Kirchen rüsten in der Adventszeit mit zusätzlichen Kerzen und einer Krippe auf. Schliesslich verdanken wir ihnen den Brauch mit dem Weihnachtsfest und den Kerzen in den Adventstagen.
Auch die altehrwürdige Abtei Saint-Maurice im Unterwallis bereitet sich auf Weihnachten vor, wie es die Augustiner Chorherren seit rund 1500 Jahren tun. Das Kloster gehört zu den ältesten durchgehend aktiven kirchlichen Institutionen und ist stolz auf seine Vergangenheit und die alten Traditionen.
Doch in diesem Jahr ist in der Abtei alles ein bisschen anders. Eine Reportage des welschen Fernsehens RTS hat nicht nur die mächtigen Mauern der Klosterkirche erschüttert, sondern auch das Fundament.
Das erste Erdbeben löste der Untersuchungsbericht zu den sexuellen Übergriffen von geistlichen Würdenträgern in der Schweiz mit über 1000 Fällen aus. Genannt wurde dabei auch die Walliser Abtei, die auch eine Schule betreibt. Doch im allgemeinen Sturm der Entrüstung gerieten vorwiegend die Bistümer und ihre Führungskräfte in den öffentlichen Fokus.
Der RTS-Bericht rückt nun die Abtei ins Zentrum der Debatte. Eine Walliserin gibt darin den Opfern ein Gesicht und zündet mit einem starken Licht hinter die pechschwarze Missbrauchsfassade der frommen Chorherren.
Die mutige Frau heisst Mélanie Bonnard. Wir schreiben das Jahr 2004. Mélanie ist 12 Jahre alt, als ihr jüngerer Bruder getauft wird. Ihre Eltern laden den Geistlichen des Klosters nach der kirchlichen Feier zum Essen nach Hause ein.
In einem günstigen Moment befummelt der Chorherr die Brust des Mädchens und greift ihm in die Unterhose. Sie will schreien, bringt aber keinen Ton hervor. Schliesslich wehrt sie sich physisch und kann sich befreien. So beschreibt das Opfer die Szene in der TV-Reportage.
Mélanie pocht darauf, den Geistlichen anzuzeigen, was für ihre Mutter peinlich ist. Schliesslich gibt sie nach, und die beiden gehen zur Polizei, doch die Strafanzeige wird später eingestellt.
Der Übergriff und die Einstellung des Verfahrens verfolgen Mélanie Bonnard ihr Leben lang. Sie sei innerlich tot gewesen, verrät sie im RTS-Bericht. Sie sinniert, wie sie den frommen Täter überführen kann. Schliesslich meldet sie sich 2016 bei ihm unter falschem Namen und bittet um seinen seelsorgerischen Rat.
Vor dem Treffen montiert sie eine Minikamera an ihrem Schlüsselbund und zeichnet so das Gespräch mit ihrem Peiniger in Agentenmanier auf. Mélanie Bonnard schildert bei der Audienz mit dem Geistlichen exakt die Übergriffszene, die sie als 12-Jährige erlebt hat, und bittet ihn um seine Einschätzung. Dieser antwortet, er sei kein Psychologe, doch die Handlung sei nicht besonders schlimm. Auf jeden Fall sei es keine Vergewaltigung.
Nun outet sich Melanie und wirft dem Chorherrn vor, er habe sie damals auf diese Weise missbraucht. Gleichzeitig zieht sie das Röckchen aus der Tasche, das sie damals getragen hatte. Doch er erklärt, sich nicht an sie zu erinnern.
Die Geschichte von Mélanie Bonnard im RTS-Bericht wühlt die Zuschauerinnen und Zuschauer auf. Für die allermeisten dürfte klar sein, wer von den beiden Protagonisten glaubwürdiger ist.
Der Bericht dokumentiert, wie traumatisierend solche Übergriffe für die Opfer sind. Zahlen zu den Missbräuchen im katholischen Milieu sind abstrakt. Geschichten, wie sie Mélanie Bonnard erzählt, gehen unter die Haut und decken die Schicksale der Opfer auf.
Peter Bodenmann, ehemaliger Staatsrat, Präsident der SP und Nationalrat, brachte es in einer Kolumne im Walliser Boten auf den Punkt: «Unter den Talaren der Augustiner von Saint-Maurice ist der Muff von sexualisierter Gewalt gang und gäbe.»
Inzwischen haben sich mehr als ein Dutzend mutmassliche Opfer gemeldet, die Übergriffe in der Abtei Saint-Maurice oder in ihrem Umfeld erlitten haben. Einer der Betroffenen beschuldigt auch Abt Jean Scarcella, der inzwischen zurückgetreten ist. Insgesamt sollen zehn Chorherren Schutzbefohlene missbraucht haben.
Wie oft haben wohl in den letzten Jahrzehnten Augustiner von Saint-Maurice die Krippe in der Kirche aufgestellt und den nackten Jesus in die mit Stroh ausgelegte Krippe gelegt? Wie oft haben sie in ihren vielen Gebeten Jesus gehuldigt? Wie oft haben sie ihren Heiland verehrt, der als bescheidener Wanderprediger umherzog und asketisch lebte? Verehrt für seinen selbstlosen Einsatz für die Armen und Geächteten.
Was ist den übergriffigen Verkündern von Barmherzigkeit und Nächstenliebe wohl durch den Kopf gegangen, als sie täglich zu Gott beteten, er möge sie beschützen und ihnen beistehen? Oder haben sie allenfalls Gott gebeten, er möge ihre Opfer vor einer Traumatisierung bewahren?
Wohl kaum. Denn das wäre ein Schuldbekenntnis gewesen und hätte nach christlichem Wertmassstab als schwere Sünde taxiert werden müssen, die das Seelenheil über den Tod hinaus hätte gefährden können.
Es gibt aber angesichts der Kerzen und der Krippe in der Kirche eine wichtigere Frage: Haben die gottesfürchtigen Täter die Angst in den Augen ihrer kindlichen Opfer nicht gesehen und aus Mitgefühl von ihnen gelassen?
Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Hoffentlich für die Opfer ein bisschen heller als für die Täter.