Die beiden grossen Landeskirchen stecken seit Jahren in einem Formtief. Die aktiven Gläubigen sind mehrheitlich im Seniorenalter, die jungen «Passivmitglieder».
Obwohl die beiden Kirchen alles versuchen, um die Indifferenten in die Kirche zu locken und den Exodus zu stoppen, ist der Erfolg bescheiden. Kurz: Der Einfluss der beiden Kirchen sinkt weiter. Und nun fällt ausgerechnet Gerhard Pfister, seines Zeichens Präsident der Christlichen Volkspartei CVP, den ohnehin gebeutelten Kirchen und manchen Geistlichen in den Rücken.
Man reibt sich als Beobachter verwundert die Augen und fragt sich, was um Himmels Willen in den guten Gerhard Pfister gefahren ist, dass er die Kirchen im Wahlkampfjahr an die Kandare nehmen will. Ist es politisches Kalkül? Oder doch eher Panik?
Doch schön der Reihe nach: Pfister ärgert sich seit langem, dass sich die Kirchen in politische Diskussionen und Abstimmungskämpfe einmischen. Er hat zusammen mit Gesinnungsgenossen einen Thinktank gegründet, um Kirchenvertretern einen politischen Maulkorb zu verpassen.
Dieser «Tank» formuliert es natürlich geschmeidiger – wie es Politiker zu tun pflegen. Sie wollen die Kirchen ermuntern, sich auf ihr Werte-Reservoir und ethisches Basiswissen zu besinnen, wie der «Tages-Anzeiger» schrieb. Und eben nicht politische Statements und Abstimmungsparolen verkünden.
Der Thinktank ist mit hochkarätigen Mitgliedern bestückt. Neben Pfister wollen drei weitere Nationalräte aus verschiedenen Parteien sowie mehrere hochdekorierte Theologen mitdiskutieren.
Hellhörig macht die Kampfrhetorik von Gerhard Pfister. Er spricht im «Tages-Anzeiger» von einem tiefen Rückfall ins Mittelalter. Es sei illegitim, mit biblischen Normen politisch zu argumentieren und aus dem Evangelium tagespolitische Empfehlungen abzuleiten.
Wie bitte, Herr Pfister? Ist für Sie als Präsident einer christlichen Partei nicht Gottes Wort, nämlich die Bibel, die ethische Richtschnur? Sind Ihnen christliche Werte suspekt? Wollen Sie sie aus dem politischen Alltag verbannen? Wollen Sie den Geistlichen das Bürgerrecht verwehren, sich zu politischen Fragen öffentlich zu äussern?
Doch nicht genug. Pfister holt den verbalen Zweihänder hervor. Wörtlich: «Wenn wir Religion und Politik nicht trennen, nähern wir uns dem Gottesstaat.»
Hoppla. Die Schweiz auf dem Weg zum Gottesstaat? Wie gross muss die Panik des Präsidenten einer Partei sein, die noch stärker trudelt als die Kirchen, dass er sich zu einer solchen Aussage hinreissen lässt?
Ich lade Sie gern zu einer Nachhilfestunde ein, Herr Pfister. Doch vorgängig empfehlen wir Ihnen einen längeren Aufenthalt in Afghanistan, Saudi Arabien oder im Iran. Danach befassen wir uns mit der Definition eines Gottesstaates.
Ein Gottesstaat ist eine Theokratie. Diese zeichnet sich durch eine Herrschaftsform aus, bei der staatliche Normen und Gesetze auf der religiösen Grundlage basieren. So stützt sich zum Beispiel das Rechtssystem in islamischen Gottesstaaten auf die Sharia. Und wichtige politische Ämter werden von Geistlichen besetzt. Ajatollah Chomeini ist beispielsweise der politische und religiöse Führer Irans, der angeblich von Gott erwählt ist. Gottesstaaten sind oft eine religiöse Diktatur.
Die Schweiz auf dem Weg zum Gottesstaat, weil sich ein paar Geistliche gelegentlich zu politischen Fragen äussern? Meinen Sie das im Ernst, Herr Pfister?
In Wirklichkeit säkularisiert sich die Schweiz laufend weiter. Könnte es etwa sein, Herr Pfister, dass Sie Angst haben vor den Geistlichen, weil diese Sie an die christliche Ethik und Moral, an Nächstenliebe und Barmherzigkeit erinnern? Zum Beispiel, wenn Sie in der Asylpolitik Richtung SVP steuern, wenn Sie in sozialen Fragen rechtsbürgerliche Positionen vertreten, wenn Sie immer wirtschaftsfreundlicher werden und sich nicht für die Schwachen einsetzen, wenn Sie für die Lockerung der Waffenausfuhrbestimmungen sind?
Da ist es natürlich verständlich, dass Ihnen mahnende Stimmen aus dem religiösen Lager ungelegen kommen.