
Festung Europa: Mitglieder des libyschen Roten Halbmonds bergen die Leiche eines ertrunkenen Migranten.Bild: EPA/EPA
Analyse
Die Migration in
Richtung Europa ist auf einem Tiefpunkt, dennoch haben die
Rechtspopulisten und Abschotter Aufwind. Und die Befürworter einer
humanen Asylpolitik ziehen den Kopf ein. Was ist passiert?
07.07.2018, 10:5508.07.2018, 09:39

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Die Bilder
erschütterten die Welt. Die Leiche des dreijährigen Aylan Kurdi aus
Syrien war Anfang September 2015 an der türkischen Küste in der
Nähe des Ferienorts Bodrum angespült worden. Seine Familie hatte
versucht, das Mittelmeer in einem Boot zu überqueren, auf der Suche
nach einem besseren Leben, am liebsten in Kanada. Auch Aylans Mutter
und sein Bruder ertranken.
Die Anteilnahme an
ihrem Schicksal war gross. Aylan wurde zur Symbolfigur für
Hunderttausende Flüchtlinge, die im Spätsommer und Herbst 2015 über
das Mittelmeer und die Balkanroute nach Europa gelangten. Die meisten
gelangten nach Deutschland, wo sie nicht von allen, aber von vielen
mit offenen Armen empfangen wurden. Der Begriff «Willkommenskultur» ging um die Welt.

Nachbildung des toten Aylan Kurdi am Strand von Gaza.Bild: AFP
Heute findet man im
Netz wieder Bilder von ertrunkenen Kindern und Babys, die von
Angehörigen der libyschen Küstenwache an Land gebracht werden. Der
Anblick ist nicht weniger entsetzlich als jener des toten Aylan
Kurdi. Nur wenige Medien aber haben sie publiziert.
Statt Anteilnahme
und Willkommenskultur dominiert im Europa des Jahres 2018 das
Schweigen.
Nichts illustriert
deutlicher die gewandelte Einstellung gegenüber den Flüchtlingen als der Umgang mit den ertrunkenen Kindern. Europa
verschliesst die Augen. Abschottung ist angesagt. Hilfsschiffe irren
über das Meer auf der Suche nach einem Hafen und werden
beschlagnahmt. Rettungsflieger werden gegroundet. Kaum jemand wagt es
noch, sich für Flüchtlinge einzusetzen.
Den Ton geben
Scharfmacher an wie der italienische Innenminister Matteo Salvini,
der die Häfen seines Landes für Rettungsschiffe abgeriegelt hat.
Den Italienern gefällt diese Härte. Salvinis Lega erreicht in
Umfragen rund 30 Prozent und hat damit ihren Koalitionspartner, die
Fünf-Sterne-Bewegung, überholt. Bei den Wahlen im März kam die
Lega auf 17 Prozent.

Matteo Salvini am Jahrestreffen der Lega.Bild: AP/AP
Beim Jahrestreffen
der Partei forderte Salvini ein europaweites
Bündnis gegen «Masseneinwanderung». Dabei ist die Migration über
die Mittelmeerroute auf einem Tiefststand. Im ersten Halbjahr 2018 wurden
rund 45'000 Personen registriert. Gleichzeitig ertranken mehr
Menschen beim Versuch, Europa zu erreichen. Mehr als 1400 waren es
seit Jahresbeginn.
Merkels «Willkommenspolitik»
Trotzdem überbieten
sich Europas Politiker derzeit mit Forderungen nach einer schärferen
Asylpolitik. Die «Festung Europa» soll Realität werden, damit möglichst
keine Migranten mehr auf den Kontinent gelangen. Im Gegenwind
befindet sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der
Herausgeber der eigentlichen seriösen FAZ bezichtigte sie in einem Kommentar auf Stammtischniveau, mit ihrer «Willkommenspolitik» die EU zu spalten.
Dabei hat Merkel
sich längst davon verabschiedet. Auch sie will einen Ausnahmezustand
wie 2015 unbedingt verhindern. Dennoch wurde sie von ihrem
Koalitions- und Fraktionspartner CSU in die Ecke gedrängt und zu
einer härteren Gangart gegenüber Asylsuchenden angetrieben. Nur mit
Mühe konnte ein Bruch und damit wohl das Ende von Merkels
Kanzlerschaft verhindert werden.
Warum aber eskaliert
die politische Lage gerade jetzt, wo die Migration abnimmt?

Demo in Brüssel im September 2015. Die Willkommenskultur ist Vergangenheit.Bild: EPA/EPA
Es ist der späte
Fallout der Krise von 2015. Die «Refugees
welcome»-Euphorie überdeckte, dass viele Menschen sich nicht
erfreut, sondern bedroht fühlten. Eine Folge ist der Aufstieg der
rechtspopulistischen AfD. Auch in anderen Ländern Europas sind die
Abschotter im Aufwind. Es sind nicht nur Schreihälse wie Matteo
Salvini. Manchmal tragen sie ein freundliches Antlitz wie jenes
des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz.
Die «Entmenschlichung Europas»
Für «Politico» ist «die Entmenschlichung Europas auf dem Vormarsch».
Die Anführer der Europäischen Union würden vor populistischen
Antieinwanderungs-Politikern kapitulieren und «die Zugbrücke
gegenüber Migranten hochziehen, die vor Krieg, Hunger und Armut in
Afrika und im Nahen Osten fliehen», heisst es in einer Kolumne.
Im Umgang mit
Migration herrscht ein Schwarzweissdenken, wo eigentlich
Differenzierung angebracht wäre. Als ich kürzlich in Brüssel
weilte, sprach ich mit EU-Beobachtern auch über das Reizthema
Migration. Zwei von ihnen stammen zufälligerweise aus Griechenland,
das neben Italien am stärksten von den Fluchtbewegungen über das
Mittelmeer betroffen ist.
Herausforderung für Gesellschaft
Petros Fassoulas,
Generalsekretär der Europäischen Bewegung International, betrachtet
die Migration als Chance, wirtschaftlich und im Hinblick auf die
Demografie: «Diese ‹neuen Europäer›, wie ich sie nenne, haben
viel zu bieten.» Maria Demertzis von der Denkfabrik Bruegel sieht
es ähnlich, sie warnt aber: «Wir haben unterschätzt, was
dies für den Zusammenhalt von Gesellschaften bedeutet. Sie verändern
sich in einem Tempo, mit dem viele nicht mithalten können.»
Private Seenotretter im Mittelmeer
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Private Seenotretter im Mittelmeer
quelle: x01097 / darrin zammit lupi
Sie bezog sich dabei
auf den Brexit, zu dem die Zuwanderung aus
der EU entscheidend beitrug. Das Beispiel lässt sich aber ohne
weiteres verallgemeinern. Für gewachsene Gesellschaften ist ein
starker Zustrom von Menschen, die womöglich aus «fremden» Kulturen stammen, nicht nur materiell und logistisch eine
Herausforderung, sondern auch mental.
Es braucht einen Mittelweg
Die Schweiz macht
damit seit einem halben Jahrhundert ihre Erfahrungen. Andere wurden
erst in letzter Zeit damit konfrontiert. Daraus erklärt sich auch
der Widerstand der Osteuropäer, die während ihrer Zeit
hinter dem Eisernen Vorhang kaum mit Migration konfrontiert waren.
Ihre Abneigung gegen Multikulti als Rassismus abzutun, greift
zu kurz.
Eine Politik, die
auf Härte durch Abschottung setzt, ist aber auch keine Lösung. Es
braucht einen Mittelweg, auch wenn dies leichter gesagt ist als
getan. Europa muss nur schon aus demografischen Gründen ein gewisses
Mass an Migration zulassen. Dabei muss man sich eingestehen, dass ein solcher Prozess nie reibungslos ablaufen wird. Die Neuankömmlinge sollten deshalb in die
Pflicht genommen werden, mit Sprach- und Integrationskursen.
Wer betreibt die Lager?
Und sie müssen so
schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt aufgenommen werden.
Arbeitsverbote für Asylsuchende sind Unsinn. Sie haben noch nie eine
abschreckende Wirkung entfaltet, sondern hindern die «neuen
Europäer» nur daran, ihr Potenzial zu entfalten. Im Gegenzug ist
eine Beschleunigung der Asylverfahren und der Abschluss von
Rückübernahmeabkommen notwendig.
Auch bei der
Bekämpfung der Fluchtursachen ist anzusetzen. Auch ohne die
Horrorszenarien einer Bevölkerungsexplosion in Afrika muss man
anerkennen, dass der Migrationsdruck aus dem Süden anhalten wird.
Ein Patentrezept gibt es nicht. Noch mehr Geld in den schwarzen
Kontinent pumpen genügt nicht. Nötig wären fairere
Wirtschaftsbeziehungen und bessere Regierungen.
Aufatmen auf der «Aquarius» – Spanien nimmt sie auf
Video: srf
Dies alles wirkt
höchstens langfristig. Heute setzt Europa auf eine personelle
Aufstockung der Grenzschutzagentur Frontex und Auffanglager für
Migranten, auch wenn sich bislang kein Land dazu bereit erklärt hat,
sie zu betreiben. Die Nordafrikaner wollen nichts davon wissen.
Vielleicht schielen sie auf die Milliarden, die Europa dem türkischen
Autokraten Recep Tayyip Erdogan zuschanzt, damit keine
Flüchtlingsboote mehr an seiner Küste anlegen.
Abriegelung ist das
Motto eines Europa, in dem die Rechten den Ton angeben und die
Verfechter einer humanitären Flüchtlingspolitik den Kopf einziehen.
«Politico» verweist deshalb darauf, dass die Europäer sich
nicht auf ihre Moral berufen können, wenn sie die Migrationspolitik von US-Präsident Donald Trump kritisieren: «Wenn
die EU eine Mauer durchs Mittelmeer bauen könnte, hätte sie es
inzwischen getan.»
Im Missbrauchsprozess gegen den einstigen Pop-Superstar R. Kelly (55) soll am Mittwoch (ab 16.30 Uhr MESZ) an einem Gericht in New York das Strafmass verkündet werden. Eine Jury hatte den Musiker im vergangenen Jahr in allen neun Anklagepunkten – darunter sexuelle Ausbeutung Minderjähriger, Kidnapping und Bestechung – für schuldig befunden. Kelly wies die Vorwürfe stets zurück. Er hatte nicht selbst ausgesagt, den Prozess aber im Gerichtssaal verfolgt.