Der Eurovision Song Contest in Basel wurde am Sonntag mit einer grossen Party eröffnet. Überschattet wurde sie wie erwartet oder befürchtet durch lautstarke Proteste gegen den Krieg im Gazastreifen. Sie fordern den Ausschluss Israels vom weltweit grössten Gesangswettbewerb und werden von Vorjahres-Champion Nemo unterstützt.
Die Demonstrierenden sind wie fast immer auf einem Auge blind. Sie sehen nur das reale Leiden der Menschen in Gaza, das durch Israels «Hungerblockade» massiv verschärft wird, und ignorieren die direkte Ursache: den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023, der fast 1200 Menschen das Leben kostete. 250 weitere wurden nach Gaza verschleppt.
Es ist bezeichnend, dass beim ESC-Protest nur Israel erwähnt wird, aber nie die Sängerin Yuval Raphael. Sie besuchte an jenem Tag das Nova-Musikfestival und überlebte den Angriff in einem Bunker. Dennoch treffen die Kundgebungen einen wunden Punkt: Der Gaza-Krieg könnte längst zu Ende sein, doch einer legt sich quer: Benjamin Netanjahu.
Der 75-jährige Langzeit-Regierungschef kündigte vor einer Woche an, den Krieg in Gaza nicht etwa zu stoppen – obwohl die Hamas weitgehend besiegt ist –, sondern auszuweiten und den Küstenstreifen vollständig zu besetzen. Die Bevölkerung solle «zu ihrem eigenen Schutz» in den Süden «umgesiedelt» werden, teilte Netanjahu in einer Videobotschaft mit.
Vor rund zwei Monaten hatte er ohne Not den Waffenstillstand mit der Hamas beendet und die Angriffe intensiviert, obwohl sich noch fast 60 Geiseln in der Hand der Terrororganisation befinden. Mehr als 20 von ihnen sollen noch am Leben sein. Doch ihre Befreiung hat für den Ministerpräsidenten nicht mehr erste Priorität, wie er offen zugab.
Die Angehörigen sind entsetzt. Am Samstag demonstrierten sie erneut in Tel Aviv und beschuldigten Netanjahu, den Krieg einzig für seinen Machterhalt fortzusetzen. In einer aktuellen Umfrage des Fernsehsenders Keshet 12 teilen 54 Prozent der Befragten diese Meinung. 61 Prozent fordern ein Ende des Krieges und die Freilassung der Geiseln.
Netanjahu scheint das nicht zu kümmern. Er regiert in einer wackeligen Koalition mit ultraorthodoxen und rechtsextremen Parteien. Letztere fordern unverblümt die Annexion von Gazastreifen und Westjordanland und die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung. Sie sollen in «Drittstaaten» gehen, doch bislang hat sich kein Land dazu bereit erklärt.
Das weiss Netanjahu, doch für ihn geht es nicht nur um die politische Macht. Gegen ihn läuft ein Prozess wegen Korruption. Trotz zahlreicher Verschleppungsversuche geht er nun in seine Endphase. Beobachter halten die Vorwürfe für substanziell. Vor dem Gefängnis kann Netanjahu vermutlich nur seine Immunität als Ministerpräsident bewahren.
Deshalb klammert er sich mit Händen und Füssen an sein Amt. Und deshalb verhindert er eine Aufklärung des Terrors vom 7. Oktober 2023. Sein Kabinett stimmte kürzlich gegen die Einsetzung einer Untersuchungskommission, ein Entscheid, der laut der Keshet-12-Umfrage von 78 Prozent der israelischen Bevölkerung abgelehnt wird.
Benjamin Netanjahu versucht, die Schuld auf die Armee und Geheimdienste abzuschieben. Als «Sündenbock» dient vor allem Ronen Bar, der Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. Sein Rauswurf wurde vom Obersten Gericht blockiert, doch am 15. Juni will Bar definitiv zurücktreten. In einer Erklärung vor dem Gericht machte er Netanjahu happige Vorwürfe.
Der Regierungschef soll von ihm persönliche Loyalität verlangt haben (Donald Trump lässt grüssen). Netanjahu habe ihn aufgefordert, gegen israelische Bürger vorzugehen, die sich an Protesten gegen die Regierung beteiligt haben. Ausserdem habe Netanjahu Bar um Hilfe gebeten, um seine Aussage im laufenden Korruptionsprozess zu verzögern.
Diese Forderungen widersprechen komplett der demokratischen Tradition des jüdischen Staats. Kein Wunder, versucht Netanjahu, mit einem «Endlos-Krieg» Zeit zu schinden. Die Konsequenzen für Israel und seine Gesellschaft scheinen ihm einmal mehr egal zu sein. Denn eine dauerhafte Besetzung Gazas würde bis zu 250’000 Soldaten benötigen.
Dabei verfügt Israel wie die Schweiz nicht über eine Berufs-, sondern eine Milizarmee. Es müssten Reservisten mobilisiert werden. Doch schon jetzt verweigern Tausende einen erneuten Marschbefehl nach Gaza. Dabei geht es nicht nur um moralische Bedenken. Jeder Militärdienst bedeutet Abwesenheit am Arbeitsplatz, zum Leidwesen vieler Unternehmen.
Eine anhaltende Besetzung verschärft das Problem. «Ein solches Szenario verschlänge während Jahren massive militärische und finanzielle Ressourcen, die andernorts fehlen würden», kommentierte die ansonsten israelfreundliche NZZ. Ein teilweiser Ausweg wäre die Aushebung der ultraorthodoxen Juden, die bislang vom Militärdienst befreit sind.
Der Oberste Gerichtshof hat sich für ein Ende dieser Privilegierung der sogenannten Haredim entschieden, und 69 Prozent der Bevölkerung sind gemäss der aktuellen Umfrage ebenfalls dafür. Doch weil Benjamin Netanjahu auf seine ultraorthodoxen Koalitionspartner Rücksicht nehmen muss, verhindert er die Umsetzung dieses Urteils.
Nur eineinhalb Jahre nach dem Hamas-Terror, dem schlimmsten Massenmord an den Juden seit dem Holocaust, ist Israel so tief gespalten wie während des Streits um die sogenannte Justizreform. Doch auch darum schert sich Benjamin Netanjahu nicht, dabei könnte er, wenn er wollte, einer der erfolgreichsten Regierungschefs in der Geschichte Israels werden.
Er könnte Frieden schliessen mit Saudi-Arabien (das Königreich hat seine Bereitschaft signalisiert) und weiten Teilen der arabischen Welt. Selbst Ahmed al-Sharaa, der vom Islamisten zum Staatsmann mutierte syrische Übergangspräsident, ist dafür offen. Damit könnte er Iran in die Schranken weisen und eine tragfähige Zweistaatenlösung etablieren.
Zuletzt gab es etwas Bewegung. Es sollen wieder Hilfsgüter nach Gaza geliefert werden, allerdings über ein US-Konstrukt, das von der UNO und Hilfswerken abgelehnt wird. Auch erwägt die Trump-Regierung, die Kontrolle über den Gazastreifen temporär zu übernehmen und, anders als ursprünglich angedacht, die Palästinenser einzubeziehen.
Die Hamas will zudem die letzte Geisel mit US-Staatsbürgerschaft freilassen, auf Druck der Vermittler Ägypten und Katar und als Geste an Donald Trump, der diese Woche in den Nahen Osten reist. Ob ein neuer Waffenstillstand resultieren wird, scheint zweifelhaft, doch selbst der US-Präsident scheint langsam die Geduld mit Netanjahu zu verlieren.
Der Grundstein für den Staat Israel wurde am Zionistenkongress 1897 in der ESC-Stadt Basel gelegt. Nun gefährdet der Regierungschef aus Eigennutz dessen Zukunft. Sein Vorgänger und Ex-Parteikolleg Ehud Olmert charakterisierte ihn so: «Bibi Netanjahu ist ein Narzisst. Bibi Netanjahu ist ein einfältiger Mensch. Bibi Netanjahu glaubt an gar nichts.»
Das ist so formuliert falsch. Die Not bestand darin, dass einer der beiden Koalitionspartner aus Protest gegen den Waffenstillstand sich vorübergehend aus der Koalition verabschiedet hat. Dann ging es im Februar im Parlament darum das Budget für das laufende Jahr zu sprechen. Ohne Ergebnis bis Ende Monat wäre das Parlament aufgelöst worden und Neuwahlen ausgerufen. Darum hat Netanjahu die Angriffe neu gestartet. Um dem Knast zu entgehen, sterben jetzt wieder Zivilisten.