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9 Monate Krieg: Der Winterkrieg kann die Entscheidung bringen

A man looks at the Independent Square (Maidan) in Kyiv, Ukraine, Monday, Nov. 21, 2022. People gathered to commemorate the Maidan protest movement and the events which took place in late Feb. 2014 tha ...
Ein Mann unter einem Regenschirm auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew: Der Winter hat die Ukraine bereits fest im Griff. Im Krieg könnte sich in den kommenden Monaten Entscheidendes tun.Bild: keystone
Analyse

9 Monate nach russischem Überfall: Der Winterkrieg kann die Entscheidung bringen

Ukraine-Kriegsreporter Kurt Pelda zieht Bilanz und blickt voraus auf die nächsten, wegweisenden Wochen.
24.11.2022, 06:5724.11.2022, 07:53
Kurt Pelda / ch media
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Wenn wir als Beobachter und Medienkonsumenten nach neun Monaten Krieg in der Ukraine eines gelernt haben, dann ist es das: Traue keinem, der sich als Militärexperte ausgibt und die Lage erklärt, ohne überhaupt in der Ukraine gewesen zu sein. Gerade zu Beginn der Invasion war das Versagen vieler Medien, wichtige Entwicklungen zu erkennen, allzu offensichtlich. Das gilt nicht nur für die eigentlichen Medienberichte, sondern auch für viele der dort zitierten «Experten».

In der «NZZ am Sonntag» war damals, Anfang März, als Titel zu lesen: «Die Ukraine wird zermalmt». Dass sich die meisten Beobachter zu Beginn des Kriegs mit ihren Voraussagen dermassen verkalkulieren konnten, war das eine. Gravierender wirkte es, als die Fehlprognosen in der zweiten Kriegsphase, dem Stellungs- und Artilleriekrieg im Donbass, wiederholt wurden.

Nach der für Russland desas­trösen Schlacht um Kiew musste sich Putins Armee Anfang April aus dem gesamten Norden der Ukraine zurückziehen. Verkauft wurde diese Nieder­lage als «Umgruppierung», um mit den abgezogenen Verbänden umso härter an der Front im Donbass zuschlagen zu können. Blamabel war die Niederlage deshalb, weil zu diesem Zeitpunkt viele der eingezogenen ukrainischen Rekruten und Freiwilligen zum Teil noch mit Schrotflinten und Jagdgewehren bewaffnet waren.

Residents of the recently liberated city of Kherson collect water from the Dnipro river bank, near the frontline, southern Ukraine, Monday, Nov. 21, 2022. (AP Photo/Bernat Armangue)
Bewohner des kürzlich befreiten Cherson sammeln Wasser nahe der Frontlinie.Bild: keystone

Die zweite Kriegsphase war gekennzeichnet von den Artillerieduellen im Donbass. Nach der «Umgruppierung» setzte die russische Militärführung im Mai und Juni auf die eine grosse Stärke, die sie zu haben glaubte: auf die zahlenmässige Überlegenheit bei der Artillerie. Fast pausenlos wurden die ukrainischen Stellungen beschossen, häufig mit mehreren tausend Granaten und Raketen pro Tag.

Was man dabei nicht bedachte: Auch Russlands Munitionslager sind begrenzt, und heute suchen die Russen – wie übrigens auch die Ukraine und ihre Verbündeten – weltweit und krampfhaft nach übrig gebliebenen Resten von Artilleriemunition aus der Zeit des alten Warschaupakts.

Waffen aus dem Westen machten den Unterschied

Das russische Artilleriefeuer war aber oft vergleichsweise unpräzis. Das wurde klar, als die Ukraine im Juni von den USA die ersten Himars-Raketenwerfer erhielt. Deren GPS-gesteuerte Munition traf Kommandoposten, Depots mit Kriegsmaterial und wichtige Brücken auf eine Entfernung von bis etwa 70 Kilometern punktgenau. Nachdem auch ihre Panzer in der Schlacht um Kiew reihenweise abgeschossen worden waren, versuchten die Russen nun zunehmend, mit Infanterieangriffen voranzukommen.

Die Ukrainer machten dieses Spiel mit, sie kämpften in jeder Ortschaft, in jeder Stellung so lange, bis die Umzingelung drohte, und zogen sich dann zurück. Ihr Ziel war es, möglichst viele Russen zu töten und möglichst viel Kriegsmaterial zu zerstören, ohne die eigenen Truppen der Vernichtung preiszugeben. Sie liessen sich schrittweise auf vorbereitete Verteidigungsstellungen zurückfallen. Das machten sie so lange, bis den Russen der Schnauf ausging. Diese Rückzugsmanöver wurden von vielen westlichen Beobachtern fälschlicherweise als drohende Niederlage interpretiert.

Putin wirft Ex-Strafgefangene in die Schlacht

Aber: Selbst als die Ukrainer die bedeutende Industriestadt Sjewjerodonezk aufgeben mussten, schafften sie es, ihre Truppen über den Donezk-Fluss zu retten. Anfang Juli geriet der russische Vormarsch bei Lysitschansk ins Stocken. Seither versucht Putins Armee mit frisch mobilisierten Soldaten und Tausenden von ehemaligen Strafgefangenen, die als menschliche Wellen in die Schlacht geworfen werden, einige relativ unbedeutende Ortschaften im Donbass zu erobern.

Dank der Himars-Raketen und vieler westlicher Artilleriesysteme, die Nato-Munition statt alter sowjetischer Granaten verschiessen, zerstörten die Ukrainer in der Zwischenzeit russische Logistikbasen und Verkehrsknotenpunkte weit hinter der Front.

Damit wurde der Boden für zwei grosse Gegenoffensiven vorbereitet – die dritte Kriegsphase. Mit Fanfaren verkündete Kiew einen Grossangriff im Süden, was Russland zur Verschiebung von Kräften in die südliche Hafenstadt Cherson verleitete. Überraschend kam der erste Gegenschlag dann aber im September im Osten bei Charkiw, wo die russischen Stellungen nur dünn besetzt waren.

Die nächste Gegenoffensive der Ukraine

Putins Armee ergriff die Flucht und entkam bei Lyman nur knapp der drohenden Belagerung. Zeitlich versetzt starteten die Ukrainer im Oktober im Süden eine weitere Gegenoffensive. Die Russen reagierten mit dem gross angelegten Rückzug aus Cherson. Inzwischen hat die Ukraine im ganzen Land mehr als die Hälfte der seit dem 24. Februar erfolgten russischen Gebietsgewinne wieder rückgängig gemacht.

Mit dem einbrechenden Winter sagen manche Experten im Westen nun ein Einfrieren des Konflikts voraus. Mit grosser Sicherheit werden die Ukrainer ihre Serie von Siegen aber fortsetzen wollen, solange Russland mit der Mobilisierung dringend benötigter Kämpfer beschäftigt ist. Im Winter gefrieren viele Böden, was nach der herbstlichen Schlammsaison wieder den Einsatz von Kampfpanzern im freien Gelände ermöglicht.

Die Ukrainer haben vom Westen Hunderttausende Winteruniformen erhalten, und auch sonst scheint der Nachschub via Polen und Rumänien zu funktionieren. Die Russen kämpfen dagegen mit logistischen Problemen, schlechter Moral und Korruption. Durch den Rückzug aus Cherson hat sich die Frontlänge für beide Seiten deutlich verkürzt; ein grosser Teil der Front verläuft nun entlang von Flüssen.

Russische Nachschubwege bleiben im Fokus

Unabhängig vom Ort, wo die Ukraine als Nächstes zuschlagen wird, bleiben die russischen Nachschubwege auf die Halbinsel Krim im Fokus von Kiew. Da ist zum einen die strategisch wichtige Brücke von Kertsch, welche die Krim direkt mit dem russischen Festland verbindet. Sie wird nun nach einem ukrainischen Angriff repariert.

Der zweite, längere Weg führt entlang der Küste über Mariupol und Melitopol. Er wäre im Fall einer erfolgreichen Offensive der Ukrainer in der zentralen Frontregion von Saporischschja ernsthaft gefährdet. Sollte es dort zu einem Durchbruch kommen, könnte das die Kriegsentscheidung bringen. (aargauerzeitung.ch)

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25 Kommentare
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MORGLUM
24.11.2022 08:56registriert Februar 2020
Keeine Munition, schlechte motivation und ausrüstung der Soldateska, und der Winter steht vor der Tür.
Habe eigentlich Mitleid mit den armen russischen Soldaten. Für nen feuchten imperialen Traum an die Front geworfen zu werden, das ist menschenverachtend.
Aber kein Zoll den Urkraine an die Russische Föderation abgeben ist das Ziel. Auf nach mariupul und Sewastopol. Freiheit für alle besetzten Gebiete.
Slava Ukraine
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Kommissar Rizzo
24.11.2022 08:48registriert Mai 2021
*grosse Stärke, die sie zu haben glaubte* Ja eben: glaubte.
Die russische Armee ist ein demotivierter und schlecht ausgebildeter Haufen mit miserabler Ausrüstung und Taktiken, die wohl schon vor 50 Jahren veraltet waren. Zum Glück für die Ukraine!
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Hösch
24.11.2022 07:52registriert März 2022
Russland muss seine Truppen über den Winter bekommen und die Ukraine ihre Bevölkerung. Und Putin liess eigentlich von Anfang weg kein Zweifel daran, dass er einen Energiekrieg führen will.

Der Handstreich auf Kiew mit Paradeuniform im Gepäck war ein Schuss ins Ofenrohr, aber die Energieversorgung hat er auch mit unpräzisen Geschossen signifikant getroffen. (Zum Glück kkam der schmale Finger nicht bis zum AKW Komplex Ukraine Süd.)

Es geht nicht darum für die Ukraine zu frieren, aber es geht darum zu erkennen dass wir unseren Beitrag auch ganz neutral leisten können. Ein Bundesrat, eine CH.
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