Es gab eine Zeit, da galt Wladimir Putin im Westen als Garant für ein neues, modernes Russland. Er bemühte sich auch, diesem Image gerecht zu werden. Zwei Wochen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hielt der einst als KGB-Agent in Dresden stationierte russische Präsident im Bundestag in Berlin eine Rede auf Deutsch.
Die Deutschen und der Westen allgemein hörten es mit Wohlwollen. Tatsächlich bemühte sich Putin, damals Ende 40, in den ersten Jahren seiner Amtszeit um gute Beziehungen. Er handelte vergleichsweise rational. Geblieben davon ist nichts. Heute gilt Putin im Westen als brutaler Gewaltherrscher – und als potenziell tödliche Bedrohung.
Mit seinem mörderischen Überfall hat er das Nachbarland Ukraine in eine Blut- und Knochenmühle verwandelt, nicht zuletzt für die eigenen Soldaten. Wladimir Putin kann es sich erlauben. Er sitzt felsenfest im Sattel. Am Wochenende wird er sich erneut zum Präsidenten wählen lassen. Die Frage ist nur, ob mit mehr oder weniger als 80 Prozent.
Seit bald einem Vierteljahrhundert herrscht Putin über das Riesenreich. Im August 1999 hatte Präsident Boris Jelzin den kaum bekannten Geheimdienstchef überraschend zum Ministerpräsidenten ernannt. Dahinter steckte ein teuflischer Pakt: Putin erhielt die Macht, dafür verschonte er Jelzin und dessen Familie vor Korruptionsermittlungen.
Wenn der 71-jährige Putin seine nächste sechsjährige Amtszeit vollendet, wird er gleich lange an der Macht gewesen sein wie Josef Stalin. Vergleiche sind schwierig. Stalin war ein Despot, ein moderner Dschingis Khan. Er liess wahllos Menschen erschiessen oder in den Gulag verschleppen. Putins Methoden sind subtiler. Er agiert wie ein Mafia-Pate.
Nie zeigte sich das so deutlich wie im letzten Jahr, als Jewgeni Prigoschin den Aufstand wagte. Mit seiner Wagner-Truppe marschierte der Söldnerführer Richtung Moskau, ehe er rund 200 Kilometer vor der Hauptstadt unter dubiosen Umständen umkehrte. Putin schien ihm zu vergeben, doch zwei Monate später fiel Prigoschin mit einem Flugzeug vom Himmel.
Es war ein Vorgang wie aus dem Drehbuch zahlreicher Mafia-Filmklassiker, allen voran der «Pate»-Trilogie. «Der allen Kinogängern bekannte Mafia-Code lautet: Das Versäumnis, sich zu rächen, lässt den Don schwach erscheinen», schrieb «Financial Times»-Kolumnist Gideon Rachman. Und Schwäche will sich Putin nicht vorwerfen lassen.
Im Kreml hat er die Technokraten marginalisiert und durch ihm ergebene «Silowiki» ersetzt. Das zeigte sich vor Beginn des Ukraine-Kriegs, als der Sicherheitsrat ihm faktisch grünes Licht für die Invasion gab. Die im Fernsehen ausgestrahlte Sitzung fühlte sich an wie ein Mafiatreffen, bei dem sich der Pate von seinen Capos die Hand küssen lässt.
Damit sicherte er sich ihre Loyalität. Keiner konnte behaupten, er habe von nichts gewusst. Putin sei in gewisser Weise schlimmer als Stalin, sagte die russisch-amerikanische Politologin Nina Chruschtschowa im watson-Interview. Mit Stalin habe man argumentieren können, doch «im heutigen Kreml gibt es keinen vernünftigen Austausch mehr».
Der Umbau Russlands zum Mafiastaat geschah nicht mit dem Ukraine-Krieg. Schon als Vizebürgermeister von St. Petersburg in den 1990er-Jahren habe Putin enge Kontakte zum organisierten Verbrechen unterhalten, schrieb seine Biografin Catherine Belton. Zu den Kriminellen gehörte ein gewisser Jewgeni Prigoschin, später bekannt als «Putins Koch».
Nachdem Putin die Macht übernommen hatte, knöpfte er sich die Oligarchen vor. Sie hatten sich in den «wilden 90ern» immense Vermögenswerte unter den Nagel gerissen. Nun lautete die Botschaft des Paten von Moskau: Ihr dürft das Land ausplündern, sofern ihr mir bedingungslose Loyalität schwört – und einen Teil der Beute überlässt.
Die Propaganda stellt Putin als bescheidenen Diener des Volkes dar. Tatsächlich soll er über immense Reichtümer verfügen, darunter mehrere Anwesen, zwischen denen er sich im Luxuszug bewegt. Überall gibt es identisch eingerichtete Arbeitszimmer, damit niemand weiss, wo er gerade ist. Im Kreml soll er nur zu offiziellen Anlässen auftauchen.
Einer aber spielte nicht mit: der Ölmagnat Michail Chodorkowski, damals der vermögendste Mann Russlands. Im Februar 2003 lieferte er sich vor laufenden Fernsehkameras wegen der grassierenden Korruption einen heftigen Schlagabtausch mit Wladimir Putin. Bald folgte die Rache des Don: Chodorkowski wurde verhaftet, enteignet und ins Straflager gesperrt.
Kurz vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 kam er frei, als Konzession an den Westen. Heute dürfte sich Chodorkowski glücklich schätzen, dass er noch am Leben ist. Viele Gegner des Regimes wurden im Mafia-Stil liquidiert. Als bislang letzten erwischte es Alexej Nawalny, den charismatischsten und prominentesten Oppositionellen.
Er war eine schillernde Figur, doch Nawalnys bleibendes Vermächtnis besteht darin, die Korruption in Putins Mafiasystem entlarvt zu haben. Das spektakulärste Beispiel bleibt der Protz-Palast in der Nähe von Sotschi, der dem Paten gehören soll. Auch in diesem Fall blieb die Rache nicht aus: Nawalny wurde vergiftet und starb kürzlich im sibirischen Straflager.
Ernsthafte Gegner hat Putin nicht mehr, und auch sonst lässt er alles unterdrücken, was nur entfernt nach Opposition aussieht. Hunderttausende Russinnen und Russen sind seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs ins Ausland geflüchtet. Und doch ist Wladimir Putin wie jeder Mafiaboss paranoid, voller Angst, er könne selbst «an der Reihe» sein.
Das zeigt sich bei der Präsidentschaftswahl. Vor sechs Jahren liess er Xenija Sobtschak, die Tochter seines wichtigsten Förderers Anatoli Sobtschak, als liberales Feigenblatt antreten. Diesmal ist selbst ein «Systemoppositioneller» wie Boris Nadeschdin, der als «Pausenclown» in den Propagandashows am Fernsehen auftritt, als Kandidat unerwünscht.
Nadeschdin wurde wegen angeblich zu vieler ungültiger Unterschriften ausgeschlossen. Doch Tausende waren in den Städten angestanden, um für ihn zu unterschreiben, obwohl sie wussten, was sie riskierten. Und Tausende kamen zur Beisetzung von Alexej Nawalny, obwohl sie sich zur Zielscheibe von Putins Geheimdiensten machten.
Offenbar trifft die Redensart zu, dass die Flamme der Freiheit, wenn sie einmal entzündet ist, nie mehr vollständig ausgelöscht werden kann. In diesem Fall ist es nicht viel mehr als ein sanfter Hoffnungsschimmer. Zu stark hat der Pate das Land im Würgegriff. Und ob eine «Palastrevolte» im Kreml etwas Besseres hervorbringen würde, darf man bezweifeln.
Im Rückblick muss man zugeben, dass der Westen sich zu lange in Putin getäuscht hat (seine «Versteher» tun das bis heute). Der Unternehmer und Chodorkowski-Vertraute Leonid Newslin, der in Israel lebt, brachte es auf den Punkt: «Im Kern besteht das Ergebnis von Putins Herrschaft darin, dass sich Russland zu einem Mafiastaat gewandelt hat.»
viel entschiedener, unabhängig von den USA, entgegen tritt. Es ist endlich Zeit, dass sich Europa (inkl CH) emanzipiert, gegenüber Russland, was die freien Demokratien und die billigen Energien angeht und gegenüber den USA was die milit U'st angeht
Eine Ergänzung: Putin ist Geheimdienstler und, wie der Text ja gut darlegt, in seinem Handeln auch Mafioso. Es ist so gut wie sicher, dass russische Geheimdienste europäische und amerikanische Politiker bestechen oder mit Kompromat erpressen. Russische Maulwürfe in Politik, Medien und Wirtschaft werden aber nur selten entdeckt (Marsalek, Seipel).
Ich vermute mal, dass der Mafiastaat noch viel mehr "Assets" im Westen hat. Es wäre wichtig, sie aufzudecken, auch in der von russischem Geld gründlich unterwanderten Schweiz (Gazprom in Zug, MIR Trade in Teufen AR etc.)