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Flüchtlinge auf Lampedusa: Italien setzt in Migrationskrise auf Härte

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Giorgia Meloni und Ursula von der Leyen besuchten am Sonntag Lampedusa.Bild: EPA ANSA
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Eskalation auf Lampedusa: So kam es zur Migrationskrise

Die Ankunft tausender Bootsmigranten hat die kleine Mittelmeerinsel Lampedusa ans Limit gebracht. Die italienische Regierung setzt auf mehr Härte, doch das Problem ist komplex.
18.09.2023, 16:0018.09.2023, 18:28
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Lampedusa ist beliebt bei Touristen – und bei Bootsmigranten. Letzte Woche kam es zum Clash der Welten. Allein am Dienstag erreichten rund 5000 Migrantinnen und Migranten den Hafen der italienischen Mittelmeerinsel. Zeitweise hielten sich 6800 Personen im Erstaufnahmezentrum auf, das nur für rund 400 Menschen ausgelegt ist.

Bei der Verteilung von Lebensmitteln und Getränken kam es zu chaotischen Zuständen. Das italienische Rote Kreuz warnte vor einer humanitären Krise. Inzwischen wurden zahlreiche Migranten nach Sizilien und aufs Festland verlegt. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen besuchten Lampedusa am Sonntag.

Die Eskalation der letzten Tage ist aussergewöhnlich, aber nicht völlig neu. Seit Jahren ist Lampedusa ein Hotspot der irregulären Migration über die sogenannte Mittelmeerroute.

Warum gerade Lampedusa?

Die nur rund 20 Quadratkilometer grosse Insel ist exponiert. Sie liegt näher bei Afrika als bei Sizilien. Die tunesische Hafenstadt Sfax, von der in letzter Zeit besonders viele Boote aufgebrochen sind, ist weniger als 200 Kilometer entfernt. Das macht Lampedusa zu einem bevorzugten Ziel für Migranten, vor allem aus Afrika, und ihre Schlepper.

Die rund 6500 Bewohnerinnen und Bewohner reagieren mit grosser Hilfsbereitschaft, doch sie fühlen sich von der italienischen Regierung und der EU im Stich gelassen. Sie befürchten, dass Lampedusa ein «zweites Lesbos» wird. Die griechische Insel ist heute vor allem bekannt für ihre Migrantencamps, in denen teilweise unwürdige Zustände herrschten.

Wie kam es zur Eskalation?

Das Mittelmeer war letzte Woche ungewöhnlich ruhig und das Wetter somit ideal für eine Überfahrt. Aber auch dem tunesischen Präsidenten Kais Saied wird vorgeworfen, die Migration vorab mit einer Kampagne gegen Schwarzafrikaner angeheizt zu haben. In den letzten Tagen gab es in Tunesien zahlreiche Razzien gegen Geflüchtete und Schlepper.

Was macht Italien?

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Matteo Salvini trat am Sonntag demonstrativ mit Marine Le Pen auf.Bild: EPA ANSA

Im letztjährigen Wahlkampf hatte Giorgia Meloni angekündigt, die irreguläre Migration stoppen zu wollen. Passiert ist das Gegenteil. Dieses Jahr sind schon mehr als 127’000 Personen ins Land gekommen, fast doppelt so viele wie im gleichen Vorjahreszeitraum. Das setzt die Regierungschefin der postfaschistischen Fratelli d’Italia innenpolitisch unter Druck.

Am Freitagabend kündigte sie in einer Videobotschaft die Einrichtung von Lagern «in abgelegenen, möglichst dünn besiedelten Gebieten» an. Die Ausschaffungshaft solle auf 18 Monate verlängert werden. Ausserdem forderte Meloni eine europäische Mission, um die Migrantenboote zu stoppen, wenn nötig durch die Marine. Was leichter gesagt ist als getan.

Die Menschen müssten schon in Nordafrika an der Fahrt nach Europa gehindert werden, sagte Meloni am Sonntag. Sie steht auch unter Druck von Koalitionspartner Matteo Salvini. Der Lega-Politiker bezeichnete die Zustände auf Lampedusa als «Akt des Krieges» und zeigte sich am Sonntag demonstrativ mit der französischen Rechtspopulistin Marine Le Pen.

Was macht die EU?

Ursula von der Leyen präsentierte am Sonntag einen 10-Punkte-Plan. Demnach solle die Überwachung auf See und aus der Luft verstärkt werden, auch mithilfe der umstrittenen Grenzschutzagentur Frontex. Die Zusammenarbeit mit Tunesien und die Ausbildung der Küstenwache soll verstärkt und die legale Migration erleichtert werden.

Ausserdem bat von der Leyen «andere Länder dringend, zu helfen und Migranten aus Lampedusa aufzunehmen». Konkrete Lösungen konnte sie nicht vorlegen. Zwar erzielten die EU-Innenminister im Juni einen Kompromiss bei der Reform des Asylrechts, das schnellere Verfahren ermöglichen soll. Aber die Umsetzung ist schwierig.

Was macht Tunesien?

In this photo provided by the Tunisian Presidency, Tunisian President Kais Saied, left, shakes hand with European Commission President Ursula von der Leyen at the presidential palace in Carthage, Tuni ...
Der umstrittene Präsident Kais Saied empfängt Ursula von der Leyen zur Unterzeichnung des Migrationsabkommens.Bild: keystone

Vor zwei Monaten unterzeichneten die EU und Tunesien eine Absichtserklärung. Sie stellt dem nordafrikanischen Land Finanzhilfen und wirtschaftliche Zusammenarbeit etwa bei erneuerbaren Energien in Aussicht. Im Gegenzug soll Tunesien verstärkt gegen die «Schlepperkriminalität» und das Ablegen von Booten vorgehen.

Die Razzien vom Wochenende gehen in diese Richtung, doch dem umstrittenen Staatschef Kais Saied, der sich zunehmend wie ein Diktator gebärdet, wird Doppelzüngigkeit vorgeworfen. Er werde «nicht die Grenzpolizei für Europa spielen», hatte er im Juni erklärt. Mitglieder des EU-Parlaments äusserten Zweifel, ob das Abkommen funktionieren wird.

Drittstaatenabkommen gehören zum Kern der im Juni vereinbarten EU-Asylreform. Demnach sollen Asylverfahren künftig in Ländern wie Albanien oder Marokko durchgeführt werden. Kritiker sehen darin einen Angriff auf eine humanitäre Asylpolitik. Noch gibt es keine Einigung. Bilder wie aus Lampedusa werden wir in nächster Zeit wohl noch öfter sehen.

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Von der Luft aus begreift man erst was sich da unten im Wasser gerade abspielt. Man sieht die verschiedenen Akteure, wie die Frontex...
quelle: ap / antonio calanni
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173 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Jonas der doofe
18.09.2023 16:24registriert Juni 2020
Ich denke, es ist 5 vor 12.
Die linken Partein Europas müssen dringend anerkennen, dass hier Handlungsbedarf besteht. Ansonsten werden sich SVP, AFD Le Pens unf Konsorteb machtig die Hände reiben.
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neoliberaler Raubtierkapitalist
18.09.2023 16:43registriert Februar 2018
Ich weiss ja nicht, was postfaschistischen sind, aber selbst als liberalen finde ich, dass zu wenig gegen die angeblichen Flüchtlinge gemacht wird.
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Marsupilami123
18.09.2023 16:06registriert Juni 2016
Die Finanzhilfen wird Kais Saied vermutlich selbst einstecken.
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