Es ist ein herber Schlag für die chinesische Propaganda. Seit Jahren verharmlost die Regierung in Peking ihre ungeheuerliche Repressionspolitik gegen die uigurische Minderheit und nennt die Internierungslager, in denen sie vermutlich rund eine Million Uiguren festhält, schönfärberisch «berufliche Fortbildungseinrichtungen». Doch jetzt – just vor dem Besuch der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet in Xinjiang – sind neue Belege aufgetaucht, die die chinesischen Behauptungen Lügen strafen.
Die Bilder in den sogenannten Xinjiang Police Files zeigen, dass Peking tatsächlich Internierungslager betreibt und dort auch Foltermethoden anwendet. Das Regime rechtfertigt seine repressive Politik mit dem Kampf gegen Terrorismus und separatistische Bestrebungen uigurischer Gruppen. Doch wer sind die Uiguren, wo leben sie und woher kommt der Konflikt mit der chinesischen Staatsmacht?
Die Volksrepublik China ist riesig; mehr als 9,5 Millionen Quadratkilometer umfasst ihr Territorium. Einen bedeutenden Teil davon nehmen zwei ausgedehnte Regionen im Westen des Riesenreichs ein – Xinjiang (chinesisch für «neue Grenze») und Tibet. Sie sind die grössten territorialen Gebilde Chinas und sie weisen beide, zumindest ursprünglich, eine nicht-chinesische Bevölkerung auf. Beide geniessen, wenigstens offiziell, Autonomiestatus. Und in beiden unterdrückt Peking mit harter Hand jeden Widerstand.
Die uigurische Minderheit in China – schätzungsweise etwas mehr als 10 Millionen Menschen – lebt ganz überwiegend im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang im Nordwesten des Landes. Der Bevölkerungsschwerpunkt liegt im Tarim-Becken im Süden Xinjiangs. Daneben gibt es kleine uigurische Gruppen im restlichen China, besonders in den grossen Städten. Die Uiguren sind nach den Hui-Chinesen (chinesische Muslime) die zweitgrösste muslimische Gemeinschaft Chinas. Noch vor den Tibetern sind sie eine der grössten nationalen Minderheiten des Landes, machen aber trotzdem nur gerade 0,75 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
Ausserhalb Chinas gibt es eine uigurische Diaspora, die vor allem in den angrenzenden zentralasiatischen Republiken lebt, besonders in Kasachstan. Weitere uigurische Gruppen gibt es in der Türkei, in den USA, Kanada und auch in den europäischen Ländern. Ihre Zahl ist in den letzten Jahren gewachsen, weil viele Uiguren der chinesischen Unterdrückung durch Emigration zu entkommen versuchen.
Die Uiguren sind ein turksprachiges Volk, das beinahe ausnahmslos dem Islam anhängt. Der Name bezeichnete ursprünglich eine Konföderation turksprachiger Stämme, die in der mongolischen Steppe siedelten und nach dem Untergang ihres Reiches im 9. Jahrhundert südwärts zogen. Im Osten Turkestans – ein historisches Gebiet, das sich vom Kaspischen Meer bis zur mongolischen Grenze hinzieht – wurden sie sesshaft, vermischten sich mit der ansässigen Bevölkerung und gründeten im Tarim-Becken ein Königreich. Später gerieten die Uiguren unter mongolische Herrschaft und ab 1759, nach der Eroberung durch die Qing, wurden sie von China beherrscht.
Verschiedentliche Aufstände konnten nur eine kurzlebige Loslösung aus dem chinesischen Einflussbereich bewirken. Zuletzt gelang dies in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Erste Republik Ost-Turkestan gegründet wurde, die von 1933 bis 1934 Bestand hatte. Die Zweite Republik Ost-Turkestan konnte sich von 1944 bis 1949 halten, bevor sie Teil der Volksrepublik China wurde; die Eingliederung erfolgte weitgehend unblutig; die chinesische Volksarmee wurde dabei von den Sowjets unterstützt. Die Ablehnung der chinesischen Herrschaft, die sich aus türkisch-nationalistischen und religiösen Motiven speist, blieb jedoch stark in der Bevölkerung verankert.
Ostturkestan liegt an der Seidenstrasse von China zum Mittelmeerraum; durch den Handel kam es hier zu einem regen kulturellen Austausch. Einflüsse aus Han-China, aus der Mongolei, aus Tibet und aus dem Iran trafen hier aufeinander. Im 10. Jahrhundert drang der Islam von Westen her in diese Region vor. Nahezu sämtliche Turkvölker, die vorher schamanistisch, buddhistisch, zoroastrisch oder nestorianisch-christlich waren, konvertierten zum neuen Glauben.
Die uigurische Sprache ist mit dem Türkischen eng verwandt und unterscheidet sich grundlegend von den chinesischen Sprachen und Dialekten. Aus diesem Grund sind die muslimischen Uiguren jene chinesische Minderheit, die nicht nur geografisch, sondern auch kulturell und sprachlich am weitesten von den dominierenden Han-Chinesen entfernt ist.
Es ist schon seit langem bekannt, dass die chinesische Staatsmacht die uigurische Minderheit in Xinjiang massiv unterdrückt. Als die Volksrepublik Xinjiang 1949 aus der Erbmasse des Qing-Reiches übernahm, hofften viele Uiguren, dass das Gebiet bald seine vollständige Unabhängigkeit erreichen werde – ähnlich wie Indien oder die Philippinen, die kurz zuvor im Zuge der Entkolonialisierung ihre Souveränität erlangt hatten. Die Region erhielt 1955 lediglich den Autonomiestatus, der aber in der Realität wenig zu bedeuten hatte.
Die Hoffnungen der Uiguren wurden enttäuscht – die riesige und rohstoffreiche Region war und ist für China schlicht zu wertvoll. Sie ist geostrategisch von zentraler Bedeutung für Peking – Xinjiang nimmt fast einen Sechstel der Gesamtfläche Chinas ein und bildet einen zentralen Korridor für die chinesischen Infrastrukturprojekte der «Neuen Seidenstrasse», die China wirtschaftlich über Zentralasien mit Europa verbinden soll.
In Xinjiang befinden sich rund 30 Prozent der kontinentalen Ölreserven und 34 Prozent der Gasreserven Chinas. Wie Mao Zedong, der Gründer und langjährige Machthaber der Volksrepublik, es ausdrückte: «Wir sagen, China ist ein Land mit riesigem Territorium, reichen Ressourcen und grossen Bevölkerungen; aber tatsächlich ist es die Han-Bevölkerung, die gross ist, und es sind die Minderheiten-Nationalitäten, deren Territorium riesig und deren Ressourcen reich sind.»
China bemühte sich zwar, die Provinz wirtschaftlich zu entwickeln. Von der Förderung der reichen Bodenschätze – Erdöl- und Gasvorkommen, dazu Kohle, Gold, Uran und seltene Erden – profitierten aber beinahe ausschliesslich die zugewanderten Han-Chinesen. Zudem nutzte die Volksrepublik Xinjiang als nukleares Testgelände – ähnlich wie die Sowjetunion das benachbarte Kasachstan. Von 1964 bis 1996 wurden insgesamt 45 Atomtests durchgeführt; der letzte oberirdische Test fand erst 1980 statt. Berichte über mysteriöse Erkrankungen im Südwesten Xinjiangs wurden von den Behörden weggewischt.
Die Unzufriedenheit der Uiguren verstärkte sich vor allem durch die stetige Ansiedlung von Han-Chinesen in der Provinz, die das demografische Bild – ähnlich wie in Tibet – komplett veränderte: Betrug der Anteil der Han-Chinesen an der Bevölkerung Xinjiangs 1949 noch etwa 6 Prozent, stieg er bis 1964 auf 33 Prozent und bis 2000 auf mehr als 40 Prozent. Der Anteil der Uiguren sank derweil von rund 80 Prozent auf unter 50 Prozent.
Diese Strategie der Sinisierung, die auch über die Sprache erfolgt – Uiguren dürfen in der Schule ihre Muttersprache nicht sprechen –, wurde von Peking seit 2017 zusätzlich durch extreme Zwangsmassnahmen zur Geburtenkontrolle verstärkt, zumindest nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten. Die Massnahmen, zu denen Sterilisierungen und das Einsetzen von Spiralen gehören, sollen die Geburtenrate ethnischer Minderheiten – die seit längerem durchwegs höher sind als jene der Han-Chinesen – drastisch reduzieren.
Die Unterdrückung führte zu uigurischen Protesten und verstärkte den Widerstand, der zum Teil auch durch eine Hinwendung zu islamistischen Terrorgruppen gekennzeichnet war und gewaltsame Formen annahm. 2008 erfolgte ein Terroranschlag auf eine chinesische Polizeistation, worauf es zu Unruhen kam. Die chinesische Staatsmacht reagierte mit verstärkter Repression auf diese Entwicklung und nahm den Terrorangriff zum Vorwand für weitere Unterdrückungsmassnahmen. Noch repressiver gestaltete sich die chinesische Politik ab 2012, mit dem Amtsantritt des gegenwärtigen starken Mannes in Peking, des Partei- und Staatschefs Xi Jinping.
Die in China ohnehin immer mehr um sich greifende Überwachung mittels modernster digitaler Technologie nimmt die Minderheiten besonders ins Visier. In Xinjiang kommen noch die Internierungslager hinzu, in denen mittlerweile rund eine Million Uiguren – und in weniger grossem Umfang auch Angehörige anderer Minderheiten wie Kasachen – gefangen gehalten werden.
Die Berichte ehemaliger Häftlinge sind schockierend: Die Insassen der «Fortbildungseinrichtungen» erleben Vergewaltigungen und Folterungen und sind ständiger politischer Indoktrination ausgesetzt. Chinesische Wachleute setzten Tränengas, Taser und mit Nägeln versehene Knüppel ein; die Lager sind mit Stacheldraht eingezäunt und werden mit Infrarot-Kameras überwacht.
Obwohl China in seiner Verfassung den Minderheiten den Schutz ihrer Kultur, Sprache und Religion garantiert, sieht es in der Praxis zusehends anders aus. Insbesondere die muslimische Minderheit erfährt immer mehr religiöse Einschränkungen; so wurde ein Grossteil der Moscheen in Xinjiang geschlossen. Umfang und Brutalität der chinesischen Unterdrückungspolitik im Verbund mit der fortgesetzten Sinisierung lassen es gerechtfertigt erscheinen, hier von einem kulturellen Genozid zu sprechen.
Deshalb müssen wir im Westen unbedingt unsere Abhängigkeit von einem unmenschlichen Regime reduzieren. Das wird den Uiguren leider nicht helfen. Es wird aber den Chinesen zeigen, dass sie sich nicht die ganze Welt untertan machen können.
China ist gefährlich. Sehr gefährlich.
Das ist kein Konflikt sondern die Unterdrückung einer ganzen Gesellschaft.