Der Westen blieb Zaungast: Am Montag ist in Tianjin das Treffen der Staats- und Regierungschefs der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) zu Ende gegangen. Gastgeber Xi Jinping, Chinas Staats- und Parteichef, hatte dort neben anderen den indischen Premierminister Narendra Modi, den russischen Präsidenten Wladimir Putin, den iranischen Präsidenten Massud Peseschkian und den pakistanischen Premierminister Shehbaz Sharif empfangen.
Der machtpolitisch hochkarätige Besuch – die vier erwähnten Staatslenker repräsentieren drei Atommächte (ausser dem Iran) und drei führende BRICS-Staaten (ausser Pakistan) – verdeutlicht das aussenpolitische Gewicht der aufstrebenden Weltmacht China. Der Gipfel in Tianjin sollte denn auch Stärke und Geschlossenheit demonstrieren. Dominiert wird die SOZ massgeblich von Anführern autoritärer Systeme, die international auch wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik stehen.
Angesichts der weltweit anhaltenden Konflikte und Handelsstreitigkeiten – Xi bezeichnete die aktuelle Weltlage als «chaotisch» – forderte Pekings starker Mann in seiner Ansprache vor mehr als 20 Regierungsvertretern mehr Zusammenhalt von den SOZ-Staaten. «Wir sollten nach Gemeinsamkeiten suchen und dabei Unterschiede beiseitelassen», sagte er. Zudem forderte er, eine Mentalität des Kalten Krieges, Blockkonfrontationen und Schikane abzulehnen. Die Organisation solle der Verantwortung für Frieden, Stabilität, Entwicklung und Wohlstand in der Region gerecht werden.
Xi hob überdies die Erfolge der SOZ hervor, darunter die Zusammenarbeit gegen Terrorismus und Investitionen in die Industrie. Gemäss seinen Angaben erreichen die Mitglieder der Organisation zusammen eine jährliche Wirtschaftsleistung von beinahe 30 Billionen US-Dollar (gut 24 Billionen Franken). Xi kündigte ausserdem 2 Milliarden Yuan (knapp 226 Millionen Franken) an Hilfe für SOZ-Mitglieder an. Er will auch die Gründung einer gemeinsamen Entwicklungsbank beschleunigen. Peking ist schon länger bemüht, alternative Strukturen zu US-geführten Institutionen aufzubauen.
Xi und auch Putin fordern schon länger den Aufbau einer «multipolaren Weltordnung». Damit meinen sie vor allem eine Weltordnung abseits einer aus ihrer Sicht vorherrschenden Führung der USA. China buhlt dafür schon länger um mehr Einfluss im Globalen Süden und präsentiert sich mit Investitions-Initiativen, etwa der «Neuen Seidenstrasse», als Alternativen zu westlichen Partnern wie etwa den USA oder der Europäischen Union. Putin sagte, die Zukunft gehöre einem System, «das die Interessen eines maximal grossen Kreises an Ländern berücksichtigt und wahrhaftig ausbalanciert ist».
In die Karten spielt der SOZ nicht zuletzt das angeschlagene Verhältnis vieler Staaten mit den USA im Streit um Zölle. So hatte US-Präsident Donald Trump jüngst die Aufschläge für Importe aus Indien auf 50 Prozent verdoppelt. Washington begründete dies unter anderem mit Indiens Öl-Geschäften mit Russland, die Geld in Moskaus Kasse für den Angriffskrieg in der Ukraine spülen. Der Besuch Modis in China – der erste seit sieben Jahren – wurde deshalb auch als Annäherung an Peking gesehen. Die Beziehungen zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt waren in den vergangenen Jahren stark durch einen seit Jahrzehnten schwelenden Grenzkonflikt belastet.
Der Gipfel in Tianjin bot dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eine neuerliche Gelegenheit, sich als respektabler Staatsmann zu präsentieren. Er nutzte die Plattform, um die russische Sichtweise des Kriegs gegen die Ukraine zu verbreiten. Die Krise – wie Putin den Krieg nannte – sei nicht dadurch entstanden, dass Russland die Ukraine angegriffen habe. Er schob erneut dem Westen und der NATO die Schuld für den Konflikt zu und sprach sich gegen eine Weltordnung aus, die von Europa und den USA dominiert werde.
Russland und China betrachten sich als strategische Partner: Seitdem Russland die Ukraine angegriffen hat und dort einen verlustreichen Krieg führt, hat sich die Beziehung zwischen Moskau und Peking weiter vertieft, der Handel wurde ausgebaut. Die chinesische Regierung gibt sich im Ukraine-Krieg zwar offiziell neutral, doch China gilt wirtschaftlich und politisch als wichtigster Unterstützer Russlands; es ist zum wichtigsten Importeur von russischem Erdöl geworden und liefert im grossen Stil Dual-Use-Güter, ohne die Putin seinen Krieg kaum fortsetzen könnte.
Am Rande des Gipfels traf sich Putin auch mit Indiens Ministerpräsident Modi – Videos zeigten die beiden, wie sie Hand in Hand durch die Konferenzhalle liefen. Beide Staaten betonten ihre Zusammenarbeit und Partnerschaft. Was den Krieg in der Ukraine betrifft, sieht Indien sich neutral. Das bevölkerungsreichste Land der Welt wurde jedoch zum zweitgrössten Käufer russischen Öls nach China und deshalb jüngst zum Ziel von Strafmassnahmen aus den USA.
Die Beziehungen zwischen Moskau und Neu-Delhi sind traditionell freundschaftlich – schon die Sowjetunion und Indien pflegten eine strategische Partnerschaft. Russland und Indien arbeiten in verschiedenen Bereichen, darunter auch dem Militär, eng zusammen. Beide Staaten gehören den G20, der SOZ und den BRICS an und gelten als Verfechter einer multipolaren Weltordnung.
Die SOZ ist nicht die einzige internationale Organisation, durch die Peking seinen Einfluss auszuweiten sucht. Gewissermassen unter dem Radar der Weltöffentlichkeit formieren sich seit einigen Jahren neue «nicht-westliche» Konstrukte, wie es in einer im Vorfeld des SOZ-Gipfels veröffentlichten Analyse des Schweizer Think Tanks Swiss Insitute for Global Affairs (SIGA) heisst. Das Institut fokussiert unter anderem auf die geopolitische Entwicklung im Indopazifischen Raum.
Neben der SOZ ist hier vornehmlich die BRICS-Staatengruppe zu nennen. Beide Organisationen bestehen – mit Ausnahme von Russland – ausschliesslich aus Staaten des Globalen Südens. Sie geben bei kritischen Infrastrukturen, Rohstoffen sowie Normen und Standards zunehmend den Ton an und besetzen aktiv Themen wie neue Technologien, Digitalisierung, Nachhaltigkeit und globale Gerechtigkeit, wie das SIGA schreibt.
Diese neuen institutionellen Alternativen seien attraktiv für eine wachsende Anzahl von Staaten des Globalen Südens, zumal diese «zunehmend von den USA und dem Westen ignoriert oder mit Auflagen gemassregelt wurden». Im Westen unterschätze man die Bedeutung dieser Entwicklung, führt das SIGA weiter aus. Ein Grund dafür liegt im Umstand, dass diese Staaten untereinander oft zerstritten sind und unterschiedliche Interessen verfolgen – ein gemeinsamer Nenner ist jedoch stets die Herausforderung der westlichen Dominanz.
Die Analyse des SIGA sieht hier eine Geopolitik neuen Typs am Werk, die besonders von China mit Geschick betrieben wird: Diese orientiere sich sehr wohl an einem strategischen Rahmen, nutze aber je nach Situation flexibel sich bietende Gelegenheiten. China und Indien könnten so gleichzeitig Partner, Konkurrenten und Gegner sein und gleichwohl in bestimmten Bereichen oder Momenten zusammenarbeiten. Im Rahmen dieser multioptionalen Strategie würden auch militärische Mittel eine neue Rolle spielen und eingesetzt werden.
Die konfrontative Aussen- und Wirtschaftspolitik des amerikanischen Präsidenten Donald Trump dürfte diesen gegen den Westen gerichteten Institutionen und Netzwerken weiter Auftrieb verleihen. Als Folge der US-Zolldiplomatie hat etwa der Aussenhandel zwischen China und den SOZ-Staaten einen neuen Höchststand erreicht, wie das SIGA feststellt. Und diese Netzwerke rücken mit dem SOZ-Mitglied Belarus, dem BRICS-Beitrittskandidaten Türkei – Präsident Recep Tayyip Erdoğan war in Tianjin zu Gast – und dem BRICS-Bank-Mitglied Algerien auch geografisch näher an Europa heran. (dhr/sda/dpa)
China ist nicht unser Freund und dass es das nie wird, war von vornherein klar.
Europa hat sich so geschwächt und kann vorläufig nur zuschauen und muss mächtig in die Gänge kommen.