Nizza stellt sich seinem dunkelsten Moment – 5 Antworten zum grossen Terrorprozess
Wie ging der Anschlag vonstatten?
Der französische Nationalfeiertag des 14. Juli 2016 ging in Nizza wie üblich mit einem Feuerwerk zu Ende. Kurz vor 23 Uhr kehrten die 30'000 Besucher langsam nach Hause zurück, viele zu Fuss über die lauschige Promenade des Anglais.
In dem Moment durchbrach ein 19 Tonnen schwerer Lastwagen die rudimentären Polizeisperren und raste in die – und durch die – Menge, eine furchtbare Blutspur hinter sich herziehend. Erst nach zwei Kilometern konnten mutige Scooterfahrer und Lokalpolizisten den Amokfahrer Mohamed Lahouaiej-Bouhlel (31) mit Schüssen ins Cockpit stoppen. Zwei Tage später übernahm die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien die Verantwortung für die Tat.
Der drogensüchtige und gewalttätige Tunesier hatte nach Polizeierkenntnissen keine direkte Verbindung zu nahöstlichen Jihadisten und hatte sich kurzfristig radikalisiert. Die Tat hatte er aber minutiös geplant.
Wer waren die Opfer?
Die Terrorfahrt forderte 86 Todesopfer und 400 Verletzte. Unter den Toten waren drei Schweizerinnen - eine Tessinerin und eine Mutter und Tochter aus Yverdon, sowie auch tunesische Landsleute des Attentäters. Nizza hat in den Sommertagen ein sehr internationales Publikum.
Am Tag nach dem Feuerwerk des Quatorze Juillet hätte die Sängerin Rihanna auftreten und das weltberühmte Jazzfestival von Nizza beginnen sollen – beide Events wurden sofort abgesagt. 2500 Überlebende, Geschädigte und Angehörige haben sich in Opferverbänden zusammengeschlossen; über 850 haben sich am Prozess als Nebenkläger eingeschrieben.
Wer sind die Mittäter?
Nach dem Attentat war die französische Regierung zuerst von der Einzeltat eines «einsamen Wolfs» ausgegangen, der sich in der Banlieue von Nizza via Internet selber radikalisiert hatte. In Paris stehen nun aber sechs Männer und eine Frau vor Gericht.
Drei Komplizen sind wie der LKW-Fahrer Tunesier und müssen sich wegen der «Bildung einer terroristischen Vereinigung» verantworten. Wie weit ihre Mitplanung oder zumindest Mitwisserschaft ging, soll der Prozess ergeben. Anders liegt der Fall von vier angeklagten Albanern, darunter eine Frau: Sie vermittelten offenbar Waffen und wollen von der Terrrorabsicht nichts gewusst haben.
Ein gewisser «Gino», mit richtigem Namen Endri Elezi, prahlte, er habe eine funktionsuntaugliche Kalaschnikow gegen 35 Gramm Kokain geliefert. Ein Helfershelfer brachte sich in Haft um, ein weiterer ist auf der Flucht.
Wie geht es Nizza heute?
Die Stadt, die für Glamour, Casinos und die von einem Kiesstrand gesäumte «Engelsbucht» entlang der Strandpromenade bekannt ist, ist bis heute vom Terroranschlag von 2016 gezeichnet. Bürgermeister Christian Estrosi hat Überwachungskameras aufstellen lassen. Die Politik der Gesichtserkennung ist umstritten, da gerade die Promenade bereits 2016 mit Kameras gesichert war; der Täter wurde vor seiner Tat elfmal gefilmt, ohne dass dies den Anschlag verhindert hätte.
Die öffentlichen Orte der Stadt sind heute mit Betonblöcken gesichert. Am Jahrestag des Anschlags, dem 14. Juli 2017, verzichteten die Stadtbehörden auf ein Feuerwerk. Seither begehen die 340'000 Einwohner der Riviera-Stadt den Quatorze Juillet, den Karneval oder das Jazzfestival «erst recht».
Wie gross ist die Terrorgefahr in Frankreich noch?
Die Terrorwelle von 2015 und 2016 mit grossen, generalstabsmässig geplanten Anschlägen scheint verebbt zu sein – vielleicht auch, weil die Mohammed-Karikaturen weniger zu reden geben und der IS in Syrien und Irak besiegt wurde. Der in Frankreich 2015 ausgerufene Notstand wurde 2017 aufgehoben; umstrittene Polizeibefugnisse wie Hausdurchsuchungen ohne richterliche Genehmigung gingen allerdings in die Rechtsordnung über.
Laut Regierungsangaben vereitelte die Polizei seit 2017 mehr als 36 Anschläge. Spontane oder psychisch gestörte Messerattentäter entgehen dem Polizeiradar aber oft, wie etwa der tschetschenische Mörder des Geschichtslehrers Samuel Paty im Oktober 2020.
Solchen Tätern will Frankreich nun mit Algorithmen zuvorkommen, die über den Besuch islamistischer Webseiten Aufschluss geben sollen. Sie sind datenschutzrechtlich umstritten. Insgesamt verfügt Frankreich heute über das schärfste Antiterrorrecht Europas.
