«Man könnte meinen, die Hamas hat nun keinen Hebel mehr in der Hand»
Die Hamas hat alle 20 Geiseln am Montagmorgen an Israel übergeben. Ist alles so abgelaufen wie abgemacht?
Simon Wolfgang Fuchs: Ja, was die noch lebenden Geiseln anbelangt, lief alles so ab, wie geplant. Im Vorfeld gab es die Befürchtungen, dass die Hamas die Übergabe – so wie im Januar – dazu nutzen könnte, sich selbst martialisch zu inszenieren. Im Sinne von: Man kämpfe hier gegen «Nazizionismus» an. Es war jedoch Teil der Abmachung, dass genau solche Szenen nicht vorkommen dürfen. Was jedoch vorkam: Noch bevor die Übergabe stattfand, liess die Hamas die Geiseln mit ihren Familien telefonieren. In Israel hat das einerseits Freude, gerade bei den betroffenen Angehörigen, ausgelöst. Andererseits konnte die Hamas damit demonstrieren, dass sie im Gazastreifen durchaus noch an der Macht ist. Bei den Angehörigen der verstorbenen Geiseln herrscht zudem der Schock vor, dass heute wohl nur vier Leichname übergeben werden.
Dennoch waren die Geiseln das grösste Druckmittel, das die Hamas in diesem Krieg besass. Jetzt ist dieses Machtinstrument weg.
Das stimmt. Man könnte auch meinen, dass die Hamas nun keinen Hebel mehr in der Hand hat, um Israel davon abzuhalten, im Gazastreifen zu schalten und zu walten, wie es der Regierung passt.
Aber?
Ich sehe das ein bisschen anders. Wie wir gestern auf Bildern aus Gaza-Stadt gesehen haben, besitzt die Hamas tausende Sicherheitskräfte auf den Strassen. Sie tritt als Polizei auf, welche laut ihrer Aussage die «Anarchie» unter Kontrolle bringt, die durch die Angriffe Israels ausgelöst worden ist. Auch jetzt finden Gefechte zwischen der Hamas und Clans statt, denen die Hamas vorwirft, mit Israel kooperiert zu haben. Auf diese Weise demonstriert die Hamas durchaus Stärke und Macht im Gazastreifen. Des Weiteren lässt sie sich dafür feiern, 2000 palästinensische Häftlinge – darunter 250 Häftlinge, die schwere Verbrechen verübt haben – freibekommen und die Frage nach einem palästinensischen Staat wieder auf die Agenda der Weltöffentlichkeit gebracht zu haben. Und das alles «dank» ihres grausamen Terrorangriffs am 7. Oktober.
Die latente Bedrohung durch die Hamas wird also bestehen bleiben. Währenddessen hat der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu verkündet: Der Krieg ist vorbei. Wie passt das zusammen?
Ich glaube, dass wenn sich die Hamas nun allzu offensiv gebärdet oder ihre Terrorinfrastruktur wiederherstellen möchte, die USA Israel wieder grünes Licht geben würden, um gegen die Hamas vorzugehen. Grundsätzlich schätze ich die Situation aber so ein, dass weder die Hamas noch die israelische Öffentlichkeit oder die US-Administration jetzt einen Appetit darauf haben, Israels Regierung einen Anlass zu geben, um diesen Krieg weiterzuführen.
Offiziell hat sich Israel längst vom Kriegsziel verabschiedet, die Geiseln freizubekommen. Stattdessen hat es die endgültige Zerstörung der Hamas zum Kriegsziel erklärt. Wird sich die israelische Regierung tatsächlich an den Waffenstillstand halten?
Wir können gerade live zuschauen, wie sich die Narrative über diesen Krieg verändern. Plötzlich hören wir von Premierminister Netanjahu, dass die Befreiung der Geiseln schon immer das Ziel gewesen sei und nur durch militärische Stärke zustande gekommen sei. Die Geiselfamilien kaufen ihm diese Erzählung nicht ab. Und ich würde sagen, weite Teile der israelischen Öffentlichkeit ebenfalls nicht. Entgegen der israelischen Erzählung war die militärische Härte nicht hauptverantwortlich dafür, dass die heutige Geiselfreilassung hat stattfinden können.
Sondern?
Der fehlgeschlagene Angriff auf Katar war entscheidend. Netanjahu stand infolgedessen unter persönlichem Druck von Trump, diesem Friedensplan zuzustimmen, obwohl er wesentliche Kriegsziele nicht erreicht hat. Deshalb glaube ich, dass sich Israel vorerst an den Waffenstillstand halten wird. Ein Waffenstillstand ist jedoch kein Frieden, auch wenn die USA das gerne gleichsetzen.
Ist der Gipfel in Ägypten, an dem zahlreiche internationale Regierungsvertretende teilnehmen, der nächste Schritt in Trumps Friedensplan?
Was am Montagabend in Ägypten passiert, ist sehr fraglich. Der Gipfel wird eher symbolisch für die internationale Unterstützung eines nachhaltigen Friedens stehen. An diesem Event wird die erfolgreich abgeschlossene erste Phase des Friedensplans gefeiert werden. Ich glaube aber nicht, dass konkrete Ergebnisse erzielt werden können. Dafür sind noch viel zu viele komplexe Fragen offen.
Welche Fragen sind zum Beispiel noch offen?
Der nächste Schritt in Trumps Friedensplan wäre die Entwaffnung der Hamas, so wie es Israel fordert. Es ist aber nicht klar, ob und wie diese erreicht werden soll. Weitere Fragen, die in diesem Zusammenhang noch offen sind, wären: Wer soll eine vorübergehende Friedenstruppe in den Gazastreifen entsenden? Indonesien, Ägypten? Wie soll die palästinensische technokratische Übergangsregierung aussehen? Wer wird sie bestimmen? Wie kann ein Friedensrat entstehen, so wie ihn Trump in seinem Friedensplan fordert und wie ihn die Hamas ablehnt?
Es gibt auch noch grundsätzlichere Knackpunkte, etwa die Siedlungsgebiete Israels auf palästinensischem Boden. Werden auch solche Fragen diskutiert werden?
Das ist tatsächlich ein grosser Knackpunkt. Die seit dem 7. Oktober von Israel neu ausgewiesenen, genehmigten oder von Siedlern einfach besetzten Gebiete umfassen inzwischen eine Fläche, die dreimal so gross ist wie der Gazastreifen. Diese schleichende Annektierung und Zerstückelung von palästinensischem Gebiet soll einen palästinensischen Staat unmöglich machen. Momentan sehe ich aber eigentlich keinen Ansatz einer Lösung oder auch nur einer Motivation der internationalen Gemeinschaft, sich mit dieser Frage zu befassen.
Angesichts dieser komplexen Streitpunkte – wie kann es weitergehen in diesem Konflikt?
Ich könnte mir vorstellen, dass der Konflikt erst mal eingefroren wird. Wahrscheinlich wird sich das israelische Militär schrittweise zurückziehen, sobald alle getöteten Geiseln geborgen werden konnten. Den Gazastreifen wird Israel wahrscheinlich weiterhin umringen und auf eine gewisse Weise Kontrolle darüber ausüben, was hinein- und wieder hinausgeht. Mit dieser Ausgangslage stellt sich die Frage, inwiefern der Wiederaufbau des Gazastreifens überhaupt vonstattengehen kann. Ein nachhaltiger Frieden in der Region, der diesen Namen auch verdient, liegt also noch in weiter Ferne.
Was in diesem Friedensplan auffällt, ist, dass die palästinensische Zivilbevölkerung in keiner Form Teil von Gesprächen ist. Inwiefern soll und kann sie sich in den Friedensprozess einbringen?
Ja, dieser Friedensplan ist einmal mehr über die Köpfe der Zivilbevölkerung entschieden worden. In Kairo finden derzeit aber Versuche statt, palästinensische Kräfte zusammenzufinden, die über die Zukunft des Gazastreifens diskutieren können. Es stellt sich nur die Frage, inwiefern der Ausgang dieser Diskussionen in den von aussen aufgezwungenen Friedensplan einfliessen kann. Die palästinensische Zivilbevölkerung hat derzeit aber kaum Kapazität, sich um dieses Problem zu kümmern. Im Vordergrund stehen jetzt existenzielle Sorgen und die Freude darüber, dass man überlebt hat. Aber auch die Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen in diesem Krieg und die Trauer über verlorene Familienmitglieder und Freunde.
Die USA sprechen ständig von einem Frieden, den ihr Präsident heute erzielt hat. Kommt dieser Friedensgedanke auch in der israelischen Bevölkerung an?
Ich glaube, sehr bemerkenswert für die jetzige Beziehung war, was am Samstagabend passiert ist. Steve Witkoff und Jared Kushner traten vor die versammelten Menschen auf dem Geiselplatz in Tel Aviv. Zu beobachten war einerseits die israelische Verehrung für Donald Trump, der aus ihrer Sicht für die Geiselübergabe verantwortlich ist. Andererseits sprach US-Sondergesandter Steve Witkoff wiederholt von einem Frieden, der im Sinne eines Waffenstillstandes erzielt worden sei. Auf diese Aussage hat das Publikum, das durchaus eher liberal links war, verhalten reagiert. Für den Grossteil der israelischen Bevölkerung – bis ins linke Lager hinein – ist der Gedanke an einen wirklichen Frieden utopisch und naiv.
Sie sind Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem. Welche Stimmung beobachten Sie selbst in der Bevölkerung beim Gedanken an ein friedliches Zusammenleben?
Ich beobachte ein sehr komplexes Bild. Weiten Teilen der israelischen Bevölkerung waren das palästinensische Leid und die Situation im Gazastreifen bisher schlicht egal. Man konnte und wollte sich nicht damit beschäftigen, dass Israel im Gazastreifen mutmassliche Kriegsverbrechen begeht. Gleichzeitig beobachte ich viele palästinensische Studierende an der Uni, die ihren Weg gehen, Hebräisch lernen, gut bezahlte Jobs in der israelischen Wirtschaft annehmen und dort mit Israelis auskommen können. Es ist aber eher ein Leben nebeneinander als miteinander. Für Worte der Aussöhnung und Vergebung ist es für beide Seiten noch zu früh. Dafür muss zuerst ein Prozess der Humanisierung der anderen Seite einsetzen. Momentan ist schon viel damit gewonnen, dass ein pragmatisches Nebeneinander des Gazastreifens und Israels möglich zu sein scheint – mit einem Waffenstillstand.