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Interview

Kamala Harris: So stehen ihre Chancen an den US-Wahlen 2024

Vice President Kamala Harris delivers remarks at a campaign event in Pittsfield, Mass., Saturday, July 27, 2024. (AP Photo/Stephanie Scarbrough, Pool)
Kamala Harris löst eine Euphorie bei den Demokraten aus.Bild: keystone
Interview

«Kamala Harris ist die linkste Kandidatin seit 1972»

Bret Stephens ist einer der unabhängigen und unerschrockensten Journalisten der USA. Russland erteilte dem «New York Times» Kolumnisten ein lebenslanges Einreiseverbot. Im Interview mit CH Media äussert sich Stephens kritisch zu Kamala Harris – und sagt zum US-Wahlkampf: «Es ist die deprimierendste Wahl meines Lebens.»
30.07.2024, 11:5730.07.2024, 12:00
Patrik Müller / ch media
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In Ihrer Kolumne in der «New York Times» haben Sie argumentiert, dass die Demokraten einen Wettbewerb verdienen – und keine Krönung. Inzwischen hat sich das ganze Partei-Establishment, inklusive die Obamas, hinter Harris gestellt. Könnte sich die schnelle Festlegung auf Harris noch rächen?
Bret Stephens: Wir befinden uns in einer sehr unvorhersehbaren Phase in der amerikanischen Politik. Innerhalb eines Monats geschah so vieles: Die katastrophale TV-Debatte von Biden, das Attentat auf Trump – und der Rückzug von Biden, der als erster Präsident seit Lyndon B. Johnson im Jahr 1968 nicht zur Wiederwahl antritt. Vorhersagen sind schwierig.

Harris ist gemäss Umfragen seit Amtsantritt als Vizepräsidentin sehr unbeliebt. Doch im Duell mit Trump liegt sie zurzeit fast gleichauf. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
Widerspiegelt die Unterstützung für Harris die Erleichterung der Demokraten darüber, dass Biden aus dem Rennen ist? Oder gibt es eine echte Begeisterung für Harris, die vorher nicht wirklich existierte? Wir wissen es noch nicht. Harris hat jetzt auf jeden Fall die Chance, sich der Öffentlichkeit neu vorzustellen, die sie zuvor mehr oder weniger abgeschrieben hatte.

Sie gilt nicht als jemand, der Begeisterung auslöst – aber die ersten Auftritte in der Rolle der Kandidatin waren gut.
Sie waren zweifellos besser, als es ihre Kritiker, mich eingeschlossen, erwartet hätten. Man fragt sich deshalb: Erlebt Kamala Harris ein Zuckerhoch – also eine vorübergehende Euphorie, wie sie sich nach dem Essen eines Schokoriegels einstellt? Oder widerspiegelt ihr guter Start eine veränderte Dynamik, ist sie womöglich eine stärkere Kandidatin als angenommen? Oder versteht sie es besser, die Menschen daran zu erinnern, was sie an Donald Trump und seinem Vizepräsidentschaftskandidaten nicht mögen? Auch das: schwer zu sagen.

FILE - California Attorney General Kamala Harris gives her first news conference in Los Angeles, Nov. 30, 2010. She's already broken barriers, and now Vice President Harris could soon become the  ...
«Amerikaner mögen die sogenannten San-Francisco-Demokraten nicht»: Bret Stephens ist skeptisch, was die Wahlchancen von Kamala Harris betrifft.Bild: keystone

Die Demokraten haben früher immer gemässigte Präsidentschaftskandidaten auserkoren, die auch parteiunabhängige Wähler ansprachen. Passt Kamala Harris in dieses Schema, oder ist sie linksaussen, wie die Trump-Kampagne behauptet?
Die Demokraten werden hart arbeiten, um zu behaupten, dass sie gemässigt ist. Ich denke, sie ist die linkste Präsidentschaftskandidatin seit George McGovern im Jahr 1972 (der Demokrat verlor damals gegen den Republikaner Richard Nixon, Anm. d. Red.). Das macht mich skeptisch für ihre Wahlaussichten, denn Amerikaner mögen weit links stehende Kandidaten nicht. Diese Wahl wird in einer relativ kleinen Anzahl von Bundesstaaten entschieden, die sich dadurch auszeichnen, viele unabhängige Wähler zu beheimaten. Selbst wenn es also eine grosse Begeisterung für Harris in Kalifornien oder Massachusetts gibt: Das spielt keine Rolle für die Frage, ob sie Präsidentin wird oder nicht. Harris muss in den Wackelstaaten siegen.

Und dass Harris etwa in Pennsylvania oder Michigan gewinnt, ist unwahrscheinlich?
Amerikaner mögen die sogenannten San-Francisco-Demokraten nicht. Das weiss man spätestens seit 1984, als die republikanische Wiederwahlkampagne für Ronald Reagan darauf abzielte, dass die Demokratische Partei von ihrem progressiven San-Francisco-Flügel übernommen wurde. Es funktionierte. Kamala Harris ist im wahrsten Sinn des Wortes eine San-Francisco-Demokratin, sie stammt von dort und war dort Staatsanwältin.

Wird eine solche Kampagne der Republikaner wieder funktionieren?
Sie haben ein Problem, und das heisst Trump. Er verfügt über eine enorm motivierte Unterstützerbasis, aber mobilisiert auf der anderen Seite auch enorm. Seine Fähigkeit, Wähler über die eigene Basis hinaus zu gewinnen, ist begrenzt. Beim Parteikongress gab er sich – wenige Tage nach dem Attentat – versöhnlich. Aber dieser Wandel währte nur kurz. Er wird seinen Ton nicht mässigen oder als staatsmännischere Figur erscheinen.

Wäre er dazu imstande, nach dem Attentat den Landesvater zu geben, würde er fast sicher gewinnen. Richtig?
Ich denke einfach, dass Trump unfähig ist, sich zu ändern. Er glaubt, dass seine Art das Geheimnis seines Erfolgs ist. Er blüht auf, wenn er an einer Rallye auftritt – das ist die auf ihn zugeschnittene Bühne, dort erfährt er eine fast kultartige Gemeinschaft mit seinen treuesten Anhängern. In jeder anderen Rolle fühlt er sich weniger wohl.

Trotzdem kann er gemäss Umfragen zurzeit Minderheiten besser ansprechen als noch 2020.
Er schneidet tatsächlich besser ab, insbesondere bei Hispanics, aber auch bei schwarzen Amerikanern. Das hatte jedoch viel mit der Unbeliebtheit von Joe Biden bei schwarzen Amerikanern zu tun. Kamala Harris wird aus offensichtlichen Gründen wahrscheinlich viel mehr Erfolg in der afroamerikanischen Gemeinschaft haben.

Aus europäischer Perspektive ist es bemerkenswert, dass die USA noch nie eine Präsidentin hatten. Profitiert Harris nun von einem Frauen-Bonus, oder ist es eher ein Malus?
Dass Amerika noch nie eine Präsidentin hatte, ist eher Zufall. 2016 lag es an Hillary Clintons Schwächen als Kandidatin. Das Geschlecht oder auch die Rasse wird im Wahlkampf kein entscheidender Faktor sein, obwohl es natürlich immer einige Leute gibt, die aus rassistischen Gründen niemals für einen schwarzen Kandidaten stimmen werden – oder niemals für eine Frau, weil sie misogyn sind. Die grosse Mehrheit der Amerikaner fühlten sich damals gut dabei, einen schwarzen Präsidenten in Barack Obama zu haben. Weisse waren stolz darauf, für Obama zu stimmen, weil es eine Möglichkeit war, zu zeigen, dass sie nicht rassistisch sind. Aber wichtiger als Identitätspolitik sind die Wirtschaft, Migration und die Rolle Amerikas in der Welt.

Wie klebt Harris am Vermächtnis von Joe Biden, der für seine Migrations- und Wirtschaftspolitik schlechte Noten bekommt?
Das ist eine Frage, die erst noch beantwortet werden muss. Waren Bidens Probleme als Präsident eine Folge einer unpopulären Agenda – oder schlicht darauf zurückzuführen, dass er alt und sichtbar gebrechlich war? Das Harris-Team glaubt, dass die Agenda populär war und das Problem der alte Mann. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Die Leute mögen nicht, in welche Richtung sich die Wirtschaft bewegt. Sie fühlen sich ärmer als vor vier Jahren, was eine ziemlich objektive Wahrnehmung ist. Sie sorgen sich um das Chaos an der Grenze. Und sie denken auch, dass die Welt ein viel unruhigerer Ort ist als während der Trump-Jahre. Es gab unter Trump viel Lärm, aber gleichzeitig herrschte grössere relative Stabilität.

Wie weit darf Harris in der Aussenpolitik von Bidens Haltung abweichen, ohne illoyal zu sein? Zum Gaza-Krieg äusserte sie sich zuletzt anders – sie zeigte Mitgefühl für das Leiden der Palästinenser.
Es gab zweifellos eine Änderung in der Tonalität, noch bevor sie beschloss, Netanyahus Rede im Kongress letzte Woche auszulassen. Es ist eine Verschiebung, die mir Sorgen bereitet; meine eigenen Ansichten zum Krieg im Gaza-Streifen sind ja sehr klar. Wenn Harris sagt, dass sie über Gaza nicht schweigen wird – nun, erstens, wer hat über Gaza geschwiegen? Niemand schweigt über Gaza. Zweitens, worüber genau wird sie nicht schweigen? Wird sie nicht über die Tatsache schweigen, dass die Hamas sich in Tunneln versteckt? Oder wird sie nicht über die Weigerung der Hamas schweigen, den Bedingungen eines Waffenstillstands zuzustimmen oder Geiseln freizulassen? Was genau bedeutet diese Aussage? Es scheint ein Signal an Teile der Linken zu sein, die Israel am feindseligsten gegenüberstehen. Das ist moralisch falsch, aber ich denke auch, dass es töricht ist, wenn sich Amerika von seinem engsten Verbündeten distanziert. Wir leben in einer Welt aggressiver Diktaturen, und wir sollten uns klar darüber sein, wer unsere Freunde und wer unsere Feinde sind.

Wenn es darum geht, ein neues Image für Harris zu zeichnen: Welche Rolle spielen dabei die führenden Medien? «New York Times» und «Washington Post» kritisierten Biden zuletzt immer schärfer – jetzt zeigen sie sich teilweise euphorisch zu Harris.
Es besteht kein Zweifel, dass ein grosser Teil der Medien Harris bevorzugt. Einige Dinge verschweigen sie nun. Es gibt ziemlich gute Beweise dafür, dass Harris sich als Staatsanwältin damals weigerte, die Verurteilungen von Menschen zu überdenken, die zu Unrecht ins Gefängnis gesteckt worden waren. Typischerweise würde das jetzt viel Aufmerksamkeit erhalten – vor allem, wenn sie eine Republikanerin wäre. Momentan wird es kaum erwähnt.

Tragen die Medien Kamala Harris ins Weisse Haus?
Die Medien haben nicht mehr diesen Einfluss. Viele Amerikaner erhalten ihre Nachrichten nicht mehr durch traditionelle Medien. Sie bekommen sie auf Instagram, TikTok oder anderen Plattformen ausserhalb der klassischen Medienhäuser. Die angestammten Medien werden noch von jenem Teil der Wählerschaft gelesen, der die Wahl kaum entscheiden wird.

Was ist Ihr persönliches Fazit des anstehenden Duells «Trump gegen Harris»?
Es ist die deprimierendste Wahl meines Lebens. Als unabhängiger Wähler habe ich das Gefühl, keine wirkliche Auswahl zu haben. Henry Kissinger sagte einmal über den Iran-Irak-Krieg: «Es ist schade, dass nicht beide Seiten verlieren können.» Das fasst meine Einstellung zu dieser Wahl mehr oder weniger zusammen.

Ein wirklicher Wettbewerb unter den Demokraten war gar nicht möglich, weil Biden bei seinem Verzicht sogleich Harris lancierte.
Es ist eine Schande, dass es so lief, weil es potenzielle demokratische Anwärter gab, die sehr starke, überzeugende Rennen geführt hätten und Wähler in der politischen Mitte, wo ich mich verorte, angesprochen hätten. Aber es sollte nicht sein. Nun werden wir zweifellos den polarisiertesten und polarisierendsten Wettbewerb dieses Jahrhunderts sehen. Wenn man an einige der Rennen zwischen Hillary und Trump oder zwischen George W. Bush und John Kerry denkt, sagt das schon etwas aus.

Wer wären denn Ihre Favoriten gewesen?
Ich wünschte, bei den Republikanern wäre Nikki Haley angetreten und nicht Donald Trump, und ich hätte gerne einen Demokraten wie Gouverneur Shapiro aus Pennsylvania gesehen, anstelle von Kamala Harris. Nicht nur für Ausländer ist es rätselhaft, warum ein so mächtiges Land wie die Vereinigten Staaten solch schlechte Präsidentschaftskandidaten hervorbringt.

Warum wurden keine besseren Kandidaten gefunden?
Vielleicht liegt es daran, dass in Amerika die besten Leute der Politik fernbleiben, während in anderen Ländern die besten Leute in die Politik gehen. Wir haben ein zunehmend schlechtes Feld zur Auswahl.

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Krasse Dinge, die Menschen am Strand gefunden haben
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Krasse Dinge, die Menschen am Strand gefunden haben
Kurz erschrocken, aber es handelt sich nur um einen Schaufensterpuppen-Kopf.
quelle: reddit
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110 Kommentare
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Linus Luchs
30.07.2024 12:51registriert Juli 2014
«Als unabhängiger Wähler habe ich das Gefühl, keine wirkliche Auswahl zu haben.»

Woher dieses Gefühl von Mister Stephens kommen mag, sei dahingestellt, aber vielleicht meldet ihm noch sein Grosshirn, dass er die Wahl hat zwischen Demokratie und Diktatur.
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wintergrün
30.07.2024 13:13registriert Dezember 2017
Seit wann ist die Staatsanwaltschaft „links“?
Harris ist klar Mitte und steht mit beiden Beinen auf dem Boden der Realpolitik.

Ich kann das Rumgeeiere über die nicht völlig perfekten Demokraten Kandidaten nicht mehr hören.
Und Trump?
Ist der nicht zu alt oder straffällig?
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James R
30.07.2024 12:19registriert Februar 2014
Ich hoffe, dass sich nun möglichst viele Amerikaner für das handfeste Programm der beiden Kandidaturen interessieren und nicht nur für die Show. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
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110
    Heute entscheidet sich die Zukunft der Weltwirtschaft
    Donald Trump will den globalen Handel neu organisieren.

    Alle starren darauf, wie das Kaninchen auf die Schlange, keiner weiss, was uns erwartet: Donald Trumps «liberation day» hält Manager, Ökonomen und Investoren gleichermassen in Atem. Die Rede ist von «reziproken Zöllen», will heissen, die USA wollen jedem Land die gleichen Zölle aufbürden, unter denen die eigenen Exporte zu leiden haben. Oder auch nicht: Vielleicht werden auch allen Ländern pauschal 20 Prozent Zölle aufgebrummt.

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