Frau Hochschild, als ich Sie am Tag von Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten für ein Interview anfragte, schrieben Sie mir: «Wir stehen alle unter Schock.» Wie geht es Ihnen jetzt, gut einen Monat später?
Arlie Hochschild: Ich würde sagen, ich und mein Umfeld befinden uns irgendwo in den fünf Phasen der Trauer. Den Schock und die Wut habe ich mittlerweile überwunden. Was bleibt, ist der Schrecken – aber auch die Frage, was wir jetzt tun können. Denn es ist klar, dass nun massive Angriffe auf alles, woran wir glauben, folgen werden. Man könnte sagen, dass ich – und auch meine Freunde und Familie – uns gegen das wappnen, was nun kommt.
Vielen liberal eingestellten Personen fällt es schwer zu verstehen, dass eine Mehrheit der US-Amerikanerinnen und -Amerikaner Trump erneut gewählt hat. Sie haben jahrelang zu Trumps Wählerschaft geforscht. Wie erklären Sie sich das Resultat?
Um die Wahl zu verstehen, müssen wir die emotionalen Dynamiken dahinter anschauen. Wir müssen unsere Perspektive auf die Politik ändern. Ich sehe zurzeit ein Amerika im doppelten Verleugnungsmodus. Die linke Seite leugnet die Macht von Donald Trumps Anziehungskraft auf die weisse Arbeiterschaft. Die rechte Seite leugnet, dass sie gerade einen Mann gewählt hat, der den Sturm auf das Kapitol orchestriert hat und den selbst Menschen aus seinem engsten Kreis als Faschist bezeichnen.
Für Ihr Buch Stolen Pride haben Sie im zweitärmsten und weissesten Distrikt der USA mit «Blue Collar Workers» gesprochen. In Pikeville, Kentucky, haben 2016 80 Prozent für Trump gestimmt, obwohl sie von seiner Politik nicht profitieren – im Gegenteil. Viele sind auf staatliche Leistungen angewiesen, die Trump abbauen will. Wie erklären Sie sich dieses Paradox?
Nun, wir sehen, dass die Verlierer der Globalisierung eher in den ländlichen Gebieten oder Kleinstädten leben, keine oder kaum Hochschulbildung haben und weniger verdienen. Die Gewinner der Globalisierung leben eher in den Städten, sind gut ausgebildet und können die neuen Chancen nutzen. Für die weisse Arbeiterklasse in den USA haben sich die letzten Jahrzehnte wie eine Geschichte des Verlusts angefühlt.
Wie meinen Sie das?
Sie erleben, im Vergleich mit weissen Personen mit Hochschulabschluss und der Schwarzen Bevölkerung, einen relativen Rückgang. Alle anderen steigen sozial auf, nur sie steigen ab. So bildet sich eine Gruppe, die sich fragt: Wie kommt es, dass es anderen Leuten besser geht als mir?
Und Trump liefert ihnen die Antwort?
Genau, zumindest fühlt es sich für sie so an. Meiner Meinung nach hat Donald Trump es verstanden, diese verzweifelte Wählerschaft anzusprechen, und zwar, indem er ihre Emotionen ernst nimmt. Emotionen sind eine wertvolle Ressource für Trump.
Inwiefern?
Donald Trump erfüllt alle Kriterien für einen charismatischen Führer. Bürokratische, rationale Führungspersonen wie Joe Biden fokussieren sich auf konkrete politische Ziele und Errungenschaften. Trump hingegen präsentiert sich als Träger der Not der Menschen, die ihn unterstützen. Er appelliert an ihre Emotionen und sagt: Ich sehe euer Gefühl des Verlusts und was ihr denkt, was die demokratische Partei euch angetan hat. Dass sie Frauen, eingewanderte Personen, People of Color oder Transpersonen gefördert, und dich, weisser Bürger der Arbeiterklasse, vergessen hat.
Trump hat nun aber bereits eine Amtszeit hinter sich. Die Versprechungen, Amerika wieder gross zu machen, haben sich für die Leute, die Sie interviewt haben, nicht eingelöst. Spielt es also gar keine Rolle, ob Trump liefert?
In der Region Appalachia habe ich mit einem Kohlebergarbeiter gesprochen, der nach einem Arbeitsunfall medikamentenabhängig geworden ist und seinen Job verloren hat. Bald darauf griff er zu härteren Drogen, er verlor seine Familie und das Sorgerecht für seine Kinder. Er war komplett beschämt. Im Drogenrehabilitationszentrum sah er eine Rede von Donald Trump im Fernsehen. Der Mann sagte später zu mir: «Wissen Sie, als er sagte, er würde die Kohle-Jobs zurückbringen, habe ich ihm nicht geglaubt. Ich wusste, dass er log. Aber ich hatte das Gefühl, dass er sah, wer ich war.» Das zeigt doch: Hier geht es nicht um materielle Interessen, sondern um Anerkennung.
Welche Rolle spielen Stolz und Scham?
In roten, also republikanischen Staaten, herrscht eine individualistische Kultur des Stolzes. Wenn man seine Arbeit gut macht, einen guten Lohn verdient und seine Familie unterstützt, denkt man: «Okay, ich kann stolz sein.» Wenn der Kohlearbeiter aber die Kündigung bekommt, weil seine Arbeit ins Ausland verlagert oder automatisiert wurde, denkt er sich: «Was habe ich falsch gemacht? Das ist meine Schuld.» In demokratisch geprägten Bundesstaaten hingegen, denen es wirtschaftlich besser geht und wo die Chancen auf beruflichen Erfolg grösser sind, ist das anders: Dort herrscht eine Kultur, in der man Erfolg, aber auch Misserfolg eher von den Umständen abhängig macht.
In Ihrem Buch sprechen Sie vom «Stolz-Paradox».
Genau. Jene, die am stärksten von der Abwanderung der Industrie ins Ausland betroffen sind, sind auch die, die sich am ehesten dafür die Schuld geben. Da setzt die Scham ein.
Sie sagen auch, Trump wandelt die Scham seiner Wählerschaft in Schuld um. Wie macht er das?
Nun, ich denke, dass Trump seit seiner ersten Wahl 2016 regelmässig ein vierstufiges Anti-Scham-Ritual inszeniert.
Das müssen Sie erklären.
Stufe eins ist: Trump sagt etwas Grenzüberschreitendes. Im Wahlkampf sagte er beispielsweise, haitianische Einwanderer würden die Haustiere der Anwohnerinnen und Anwohner essen – was jeder Grundlage entbehrt. Stufe zwei besteht darin, dass die Öffentlichkeit, die Medien und Expertinnen Donald Trump für diese grenzüberschreitende Aussage beschämen. Auf Stufe drei stilisiert sich Donald Trump als Opfer der Medien und der Gebildeten. Gegenüber seinen Anhängerinnen und Anhängern gibt er zu verstehen: Ihr wisst, wie es sich anfühlt, herabgesetzt zu werden. Sie wollen mit euch machen, was sie mit mir machen, aber ich nehme diese Schmach auf mich, für euch. Auf Stufe vier schlägt er zurück, sagt Vergeltung gegen die liberalen Medien an, gegen den «Deep State» oder seine persönlichen Feinde.
Warum geht diese Strategie auf?
Ich glaube, dass die demokratisch gesinnten Amerikanerinnen und Amerikaner in den letzten Jahren nur die Stufen eins und zwei gehört haben: die grenzüberschreitende Aussage und die Beschämung der Experten. Die republikanische Seite hingegen hört nur auf Stufe drei und vier, sieht Trump also als Opfer dieser Beschämung und als Rächer der Beschämten, zu denen sie sich dazuzählen.
Auch Kamala Harris hat versucht, über Emotionen an Wählerinnen und Wähler zu gelangen. Wieso hat sie es nicht geschafft, die weisse, männliche Arbeiterschaft zu mobilisieren?
Kamala Harris und ihr Team sprachen im Wahlkampf oft über Freude. Ihr Motto war: Wir müssen wegkommen von Wut und Vergeltung, wir sind die Partei der Freude. Harris hat die Gefühle von Scham, Angst und Verlust, die in dieser grossen Wählergruppe sehr real sind, völlig vernachlässigt. Ich denke, es wäre besser gewesen, zu sagen: Wir wissen, wie viele von euch zu kämpfen haben. Wir wollen irgendwann zur Freude gelangen, gemeinsam. Aber jetzt sehen wir, dass es euch nicht gut geht.
Nun steht Donald Trumps zweite Amtszeit bevor. Wie schauen Sie persönlich auf die nächsten vier Jahre?
Auf keinen Fall dürfen wir demokratisch eingestellten Personen jetzt den Kopf in den Sand stecken und sagen: «Oh, der Faschismus kommt.» Ich glaube, wir müssen eine Doppelstrategie fahren. Einerseits müssen wir das verteidigen, was nun und in den kommenden vier Jahren von Trump und seiner Entourage angegriffen wird: in unseren gemeinnützigen Organisationen, an unseren Hochschulen und so weiter. Gleichzeitig müssen wir über die Parteigrenzen hinweg gemeinsamen Boden finden.
Wie kann das gelingen?
Umfragen in der Bevölkerung machen mir hier Mut: Sie zeigen, dass die Mehrheit der Wählerschaft von Trump deutlich moderater eingestellt ist als er selbst, wenn es beispielsweise um Umweltschutz oder Abtreibung geht. Hier müssen wir ansetzen und neue Allianzen mit der weissen Arbeiterklasse schmieden. Wir müssen anfangen, unsere eigenen Brücken zu bauen, unsere Basis zu erweitern und die Schutzwälle gegen den Faschismus zu verstärken.