«Dieser Krieg endet nicht mit einem Sieg, sondern durch Erschöpfung»
Heute vor zwei Jahren rückte der Israel-Gaza-Krieg mit dem Hamas-Massaker ins Zentrum der Weltöffentlichkeit. Seither ist viel passiert – von Genozid-Vorwürfen bis zur Anerkennung Palästinas als Staat durch zahlreiche Länder. Welche Wendung hätten Sie so nie erwartet?
Andreas Krieg: Die letzten zwei Jahre haben die ganze Welt grundlegend verändert. Nicht nur Israels Vorgehen, sondern auch das Schweigen der internationalen Gemeinschaft untergraben den Status quo einer regelbasierten internationalen Ordnung. Mich überrascht nichts mehr.
Der 7. Oktober war das grösste Massaker an Juden seit dem Holocaust – und zugleich Beginn einer humanitären Katastrophe in Gaza. Warum ist es so schwer geworden, beide Realitäten gleichzeitig anzuerkennen?
Weil beide Wahrheiten an entgegengesetzten moralischen Polen ziehen. Politische Akteure auf beiden Seiten befürchten, dass die Anerkennung des Leids des anderen ihre eigene Legitimität untergräbt.
Aber Mitgefühl für menschliches Leid sollte doch nichts mit Politik zu tun haben.
Genau, und doch ist es politisiert. Wir reden über Gaza und Israel fast nur noch in der Sprache von Schuld und Anklage – über Begriffe wie Terrorismus, Völkermord oder ethnische Säuberung. Dadurch wird Mitgefühl zu einem Urteil, statt zu Verständnis zu führen. Das ist gefährlich.
Inwiefern?
Weil in diesem Klima selbst Mitgefühl als Parteinahme gilt. Der moralische Konsens westlicher Gesellschaften beginnt zu bröckeln. Man sieht es daran, wie selbst die Aufnahme verletzter Kinder aus Gaza plötzlich als politische Stellungnahme gelesen wird. Dabei hat Hilfe für schwer verwundete Kinder nichts mit Parteilichkeit zu tun.
Wie lässt sich diese Situation durchbrechen?
Nur durch moralische Anerkennung auf beiden Seiten. Sie ist die Voraussetzung für politischen Realismus – und damit für Lösungen.
Solange das nicht geschieht, bleibt die Lage für die Bevölkerung in Gaza und die israelischen Geiseln und ihre Familien verzweifelt. Trump drängt nun auf ein Abkommen bis Ende Woche. Wie realistisch ist das?
Die Gespräche in Ägypten werden kaum Frieden bringen, aber sie könnten eine strukturierte Pause ermöglichen – ein 72-Stunden-Fenster für Geiselaustausch und Hilfskorridore, angelehnt an Trumps 20-Punkte-Plan. Etwas daran ist sehr bemerkenswert.
Was?
Ich habe vorhin gesagt, dass mich nichts mehr überrascht. Ausser, dass jetzt ausgerechnet Donald Trump sein Gewicht hinter ein Friedensabkommen wirft, das auch Druck auf Israel ausübt. Doch es bleibt abzuwarten, ob dieser Druck anhält oder Trump schliesslich einknickt.
Wie wahrscheinlich ist es, dass Trump Netanjahu tatsächlich unter Druck setzt – und nicht am Ende nachgibt?
Trump hasst lange Verhandlungen. Doch einige Punkte seines Plans bleiben umstritten: Die Hamas wird sich der geforderten Abrüstung widersetzen, Netanjahu wiederum auf Israels Sicherheitspuffer entlang der Gaza-Grenze pochen. Wenn der Prozess nicht rasch sichtbare Resultate liefert, wird Trump womöglich nachgeben.
Trumps Plan sieht eine palästinensische Technokraten-Regierung und einen Friedensrat unter US-Führung vor. Ist das eine Rückkehr zur Kontrolle oder der vielversprechendste Weg aus der Sackgasse?
Eine technokratische Übergangsregierung ist wohl der einzige pragmatische Ansatz, Gaza nach der Zerstörung zu stabilisieren. Es gibt keine funktionsfähige palästinensische Verwaltung, und die Hamas wird die Macht nicht freiwillig abgeben. Entscheidend ist, ob dieser Prozess klar begrenzt bleibt und am Ende zu palästinensischer Souveränität und zu Frieden führt – oder ob er zu einer dauerhaften Kontrolle von aussen wird.
Rückblick: Zwei Jahre Krieg in Gaza.
Sie sprechen von echter palästinensischer Souveränität: Netanjahu lehnt einen Palästinenserstaat ab, Trump lässt ihn zumindest theoretisch zu. Ist die Zweistaatenlösung noch machbar?
Netanjahus Koalition lehnt sie ideologisch ab und Trumps Plan enthält nur vage Hinweise auf einen «glaubwürdigen Weg» dorthin. Trotzdem hält sich die Zweistaatenidee, weil niemand eine tragfähige Alternative formuliert hat. Wenn sich in Gaza eine Übergangsregierung stabilisiert, könnte daraus wieder ein Funke Hoffnung entstehen – vorerst aber geht es um Konfliktmanagement, nicht um Konfliktlösung.
Was, wenn Trumps Plan tatsächlich funktioniert?
Sollten die Gespräche Fortschritte machen und sich eine modifizierte Version des Trump-Plans auch nur teilweise durchsetzen, könnte dies den Beginn eines unvollkommenen, aber realen Übergangs markieren. Die Hamas wird ihrer eigenen Auflösung nicht zustimmen. So viel ist klar. Doch der politische Flügel der Hamas im Ausland – vor allem das Exilbüro in der Türkei – könnte Teilzugeständnisse prüfen: etwa Amnestie für Funktionäre, Exil für führende Köpfe oder begrenzte Abrüstung, falls Israel tatsächlich einen vollständigen Abzug und einen Fahrplan für einen palästinensischen Staat anbietet.
Blicken wir ein Jahr voraus: Was ist Ihre Einschätzung?
Das wahrscheinlichste positive Szenario ist eine Zersplitterung innerhalb der Hamas: Ein politischer Flügel wird über Verhandlungen nachdenken, während militärische Gruppen weiterkämpfen. Damit Trumps Plan eine Chance hat, muss die Übergangsregierung auf Instabilität vorbereitet sein – nicht auf einen plötzlichen Frieden. Dieser Krieg wird nicht auf dem Schlachtfeld enden, sondern durch Erschöpfung und schrittweise Anpassung. Eine Version von Trumps Plan wird den Krieg beenden – ob jetzt oder später.