Es wird einem mulmig zumute, wenn er mit ruhiger Stimme die verstörenden Szenen schildert. «Gestern Morgen wurde ein 13-jähriger Junge eingeliefert, dessen Körper fast vollständig verbrannt war. Eine Bombe war direkt neben sein Haus gefallen und hatte ein Feuer ausgelöst», sagt Léo Cans in einer Whatsapp-Audionachricht. Der Einsatzleiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) in Palästina teilt seine Eindrücke der letzten Tage.
Seit Samstag fliegt Israel als Reaktion auf den brutalen Angriff der Hamas Luftangriffe auf Gaza. «Die Intensität der Gewalt und der Bombardierungen ist schockierend, ebenso wie die Zahl der Toten», sagt der Franzose Cans.
Selbst erfahrene humanitäre Mitarbeiter, die schon in vielen Konfliktgebieten im Einsatz waren, sagen, so etwas hätten sie noch nie erlebt. «Wir haben Angst, wohin das führt», sagt Jason Lee sichtlich gezeichnet in einer Videoaufnahme von Dienstagabend. Der Länderdirektor der Hilfsorganisation Save the Children in Palästina fragt sich, wie lange die Bevölkerung in Gaza das aushalten kann. «Auf diese humanitäre Katastrophe ist niemand vorbereitet.»
Der schmale Landstrich am östlichen Mittelmeer, eingepfercht zwischen Israel und Ägypten, ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Auf einer Fläche etwas grösser als der Kanton Schaffhausen leben 2,4 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Schaffhausen hat rund 85'000 Einwohner. Fast die Hälfte der Bewohner in Gaza ist auf Lebensmittelhilfe der UNO angewiesen, Strom ist knapp und das Trinkwasser verschmutzt. Die UNO warnte bereits vor Jahren, das Gebiet werde in absehbarer Zeit unbewohnbar sein.
«Es sind sehr zähe Menschen, denn leider haben sie schon viele Kriege erlebt», sagt Léo Cans von MSF, aber dieses Mal sei es anders: «Sie sehen keinen Ausweg und fragen sich, wie das alles enden wird. Sie befinden sich in einer schrecklichen seelischen Notlage.» Es gebe praktisch keine Worte, um zu beschreiben, was die Menschen durchmachten.
Als verheerend erweist sich die totale Blockade durch Israel. Seit das Land die Versorgungswege gekappt und die Wasser- und Stromversorgung lahmgelegt hat, gelangen keine lebensnotwendigen Güter mehr in den Gazastreifen. Und diese gehen langsam zur Neige. Wie lange die Vorräte halten, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die Rede ist von Tagen bis zu wenigen Wochen.
«2,4 Millionen Menschen brauchen eine recht ordentliche Menge an Lebensmitteln und Wasser, um einen Tag zu überleben», sagt Lee von Save the Children. Strom gibt es täglich noch höchstens vier Stunden. Überlebenswichtig ist auch Treibstoff. Ohne ihn können die Stromgeneratoren für Spitäler nicht betrieben werden. Nach Angaben von MSF reicht der Treibstoffvorrat in einigen Spitälern nur noch für ein paar Tage.
Und weil Israel den Gazastreifen komplett abgeriegelt hat und auch der Grenzübergang zu Ägypten geschlossen ist, kann niemand mehr raus. «Die Menschen sind gefangen», sagt Lee. Auch Cans sagt: «Sehr oft wissen die Menschen nicht, wohin sie gehen sollen; sie finden sich mitten in der Nacht im Bombenhagel wieder. Wo können sie sich in Sicherheit bringen?»
Kein Ort im Gazastreifen ist vor Bombardierungen sicher. Bei den Luftschlägen wurde auch eine UNO-Schule getroffen und schwer beschädigt. In diesen sind die meisten der bislang über 200'000 Vertriebenen untergebracht. Sorgen bereitet den Hilfsorganisationen, dass selbst medizinische Einrichtungen nicht verschont bleiben. MSF-Einsatzleiter Cans erzählt, wie bei einem Luftangriff ein Krankenwagen, der Verwundete transportierte, direkt vor dem Krankenhaus getroffen wurde. «Unser Team, das gerade einen Patienten operierte, musste das Spital fluchtartig verlassen.»
Ohnehin können viele Hilfsorganisationen nicht mehr das tun, wofür sie da sind: humanitäre Hilfe leisten. Terre des hommes, die sich seit 50 Jahren im Gazastreifen engagiert, hat aufgrund der Sicherheitslage vorübergehend alle Aktivitäten ausgesetzt. So geht es auch Save the Children. «Viele meines Teams mussten ihre Häuser verlassen, Familienmitglieder wurden getötet, mein Team ist verängstigt», sagt Jason Lee.
MSF ist seit 1989 in Gaza tätig und führt ihre Arbeit weiter. Die Organisation spendet notwendige Medikamente und andere Hilfsgüter. In Gaza-Stadt hat sie eine Klinik eingerichtet, und in zwei Spitälern behandeln ihre Ärzte Verwundete. Doch auch bei MSF sind die Notvorräte begrenzt und dürften schnell erschöpft sein, sollten keine Güter mehr den Weg in den Gazastreifen finden. Wie dringend sie benötigt werden, zeigt die Tatsache, dass in einem Spital der Vorrat von drei Wochen innerhalb von drei Tagen aufgebraucht war.
Die Teams von MSF sehen Spitäler, die mit der Zahl der Verwundeten überfordert und chirurgische Teams, die Tag und Nacht im Einsatz sind. Es ist extrem gefährlich, sich zu bewegen. MSF setzt keine Krankenwagen mehr ein, da mehrere von ihnen bereits getroffen wurden und es in den Strassen nicht sicher ist. Erschwert wird die Arbeit dadurch, dass wegen des schwer beschädigten Telefonnetzes gewisse Ärzteteams gar nicht mehr erreichbar sind.
Für die Hilfsorganisationen ist deshalb klar: Es braucht sichere humanitäre Korridore nach Gaza, um Soforthilfe zu leisten. Gemäss MSF würde das auch erlauben, Notfallteams einzusetzen und andere Teams, die für diese Kriegssituation weniger geeignet sind, abzuziehen. Terre des hommes fordert einen sofortigen Waffenstillstand oder zumindest eine Kampfpause, um humanitäre Güter zu liefern.