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Militärexperte: «Militärische Situation in Gaza ähnelt jener in Mossul»

Char israélien Merkava en périphérie de Gaza. 13 octobre 2023.
Ein israelischer Merkava-Panzer am Rande von Gaza am 13. Oktober 2023.Image: EPA

«Die militärische Situation in Gaza ähnelt der im vom IS befreiten Mossul»

Alexandre Vautravers, Militärexperte und Chefredaktor der Westschweizer Militärzeitschrift «Revue Militaire Suisse (RMS)», skizziert die Optionen der israelischen Armee bezüglich einer Bodenoffensive im Gazastreifen.
13.10.2023, 18:23
Antoine Menusier
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Herr Vautravers, wie erobert eine Armee ein stark besiedeltes Gebiet wie den Gazastreifen mit zwei Millionen Einwohnern?
Alexandre Vautravers: Wir müssen uns einem bewusst sein: Die verschiedenen Armeen, ob die IDF oder die NATO-Streitkräfte, verfügen nicht über eine Doktrin, die es ihnen erlaubt, ein urbanisiertes Gebiet mit mehr als 100'000 Einwohnern zu kontrollieren. Wir bewegen uns hier auf unbekanntes Terrain. Immer wenn gross angelegte Militäreinsätze in städtischen Gebieten durchgeführt wurden, wie etwa früher im Fall Gaza, führte dies zu kurzfristigen taktischen Erfolgen, auf lange Sicht jedoch häufig zu Misserfolgen in der Stabilisierungsphase. Wenn es tatsächlich zu Beginn Erfolg gibt, wissen wir, dass dieser in der Regel nicht nachhaltig ist.

Wie würden Sie beschreiben, was Israel militärisch in Gaza tut?
Im Moment handelt es sich hauptsächlich um Lufteinsätze und in geringerem Masse um Artilleriebeschuss.

Israel fordert die Evakuierung der Bewohner von Nord-Gaza in den Süden des Gazastreifens. Was kann man daraus ableiten?
Diese Ankündigung hat zwei Dimensionen: Eine ethische und eine militärische. Die Ethische ist, dass die israelische Armee die Vorwürfe bezüglich Verletzungen des humanitären Völkerrechts, die bei früheren Militäreinsätzen in Gaza gegen sie erhoben wurden, im Hinterkopf hat. Nehmen wir als Beispiel die Operation ‹Protective Edge› im Jahr 2014, bei der rund 1500 palästinensische Zivilisten, darunter 300 Frauen und 500 Kinder, bei mehr als einen Monat andauernden IDF-Bombenanschlägen getötet wurden. Heute ist diese Zahl nach Angaben der Gaza-Behörden in nur drei oder vier Tagen der Bombardierung auf 1200 Zivilisten gestiegen.

«Mit der Aufforderung zur Evakuierung will Israel der Welt zeigen, dass man völkerrechtliche Grundsätze einhalten will und sie zum Zeugen davon machen. Auch will Israel zeigen, dass es Kollateralschäden tatsächlich vermeiden möchte.»

Mit dem Aufruf kann niemand Israel vorwerfen, dass es nicht vor den Risiken gewarnt hätte. Aus militärischer Sicht ist die Botschaft: Je mehr Einwohner es in einem Gebiet gibt, in dem wir operieren, desto komplexer werden die Einsätze.

Welche Operation bereitet Israel in Gaza denn nun genau vor?
Seit rund zehn Jahren sprechen wir von Multi-Domain-Operationen. Die Amerikaner nennen das «6D», also sechs Dimensionen, den Boden, die Luft, das Meer, zu denen noch Information, Cyber und Weltraum, also Satelliten, hinzukommen. Es wäre höchst unwahrscheinlich, dass ein zukünftiger Grossangriff diese sechs Dimensionen nicht gleichzeitig integrieren würde. Vor diesem Hintergrund scheinen wir auf eine Operation zuzusteuern, bei der Landstreitkräfte auch eingreifen. Die aktive Armee zählt nur etwa 100'000 Mann. Daher wird es auch notwendig sein, die Reserve, die mobilisiert wurde, also mehr als 360'000 Soldaten, einzusetzen.

Die aktuellen Entwicklungen in Israel und Gaza im Ticker:

Sie sagen: «Wir scheinen auf eine Landoperation zuzusteuern», gilt das nicht als sicher?
Der israelisch-palästinensische oder israelisch-arabische Konflikt entzieht sich der Rationalität, da der Konflikt schon lange andauert und die Ursachen zahlreich sind. Dieser Konflikt – insbesondere seine Wahrnehmung, in Europa, den Vereinigten Staaten oder anderswo auf der Welt – ist sehr emotional und politisch. Ich kann Ihnen ehrlich gesagt nicht mit Sicherheit sagen, was Israel in den kommenden Tagen politisch und militärisch tatsächlich unternehmen wird. Wird es darum gehen, das Land zu besetzen? Ich muss die Frage zum jetzigen Zeitpunkt mit «vielleicht» beantworten.

«Bedenken muss man, dass selbst alle Ressourcen der israelischen Armee nicht ausreichen werden, um alle diese Gebiete nachhaltig zu besetzen.»

Was könnte Israel also konkret unternehmen?
Zwei Dinge. Erstens: Grossangelegte Razzien in bestimmten Orten, wobei man darauf hofft, dass der Feind entdeckt und somit neutralisiert wird. Dies gelang den Amerikanern im Irak mit einigem Erfolg. Bei dieser Art von Aktion geht es überhaupt nicht darum, das Land zu besetzen. Die zweite Möglichkeit wäre, wie es ebenfalls die Amerikaner während der Schlacht von Falludscha im Irak im Jahr 2004 taten, das Gebiet in Raster einzuteilen. Das bedeutet, dass man eine bestimmte Anzahl geografischer Räume definieren würde, die abgeriegelt und sorgfältig durchgekämmt werden, um die Feinde zu verdrängen.

Können wir die militärische Situation in Gaza mit der in Mossul im Irak vergleichen, als die internationale Koalition 2016 die Stadt vom Islamischen Staat zurückeroberte? Benjamin Netanjahu verglich die Hamas jüngst mit dem IS. Mossul war schwer bombardiert worden, um diesen zu vertreiben.

«Ja, abgesehen von der Symbolik ähnelt Gaza Mossul oder, wie ich bereits sagte, Falludscha.»

Es geht darum, ein Raster der Stadt zu schaffen, sofern dies überhaupt umgesetzt werden soll, und zwar in Räumen, in denen Landstreitkräfte agieren können. Aber es würde nicht auf einmal, sondern Schritt für Schritt geschehen.

Wieso halten sie denn eine komplette Eroberung des Gazastreifens für unwahrscheinlich?
Weil wir wissen, dass es nicht funktioniert, solche Gebiete auf einmal erobern zu wollen. Je grösser und komplexer die Umwelt ist – denken Sie beispielsweise an die zahlreichen Tunnel in Gaza – desto weniger ist es möglich, sie zu kontrollieren. Israel könnte sich natürlich dafür entscheiden, die Stadt mit Flächenbomben dem Erdboden gleichzumachen, aber dann würde es eine andere Dimension betreten.

Welche Rolle spielen die israelischen Geiseln im Gazastreifen beim Vorgehen der Armee?
Die Al-Qassam-Brigaden, der bewaffnete Flügel der Hamas, gaben am Freitagmorgen den Tod von 13 Geiseln bei Bombenanschlägen israelischer Flugzeuge bekannt. Die Situation stellt ein schreckliches Dilemma für Israel dar: Warten sie, bis die eigenen Streitkräfte vorbereitet sind und wirksam handeln können, oder handeln sie schnell und weniger kontrolliert, bevor die Geiseln sterben – beides wird im Endeffekt zu Todesopfern führen. Die Frage ist, welche Option weniger Kollateralverluste verursacht.
Die Vorbereitung einer Offensive, insbesondere an Land, fordert Zeit und Koordination, um hohe Kollateralschäden zu vermeiden und so viele Leben wie möglich unter der Bevölkerung Gazas und der Geiseln zu retten. Wir müssen jedoch feststellen, dass es nur kurze Zeit dauerte, bis einige der Geiseln starben durch israelische Angriffe starben.

«Israel scheint entschlossen zu sein, einen Krieg zu führen, den man als total bezeichnen könnte.»

Was könnte es nach einer israelischen Militäroperation weitergehen?
Das ist schwer zu sagen. Die Methoden bei der Grenzkontrolle und die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern werden durch die Ereignisse aber sicherlich tiefgreifend verändert.

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10 Kommentare
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Kolo
13.10.2023 18:57registriert Juni 2020
Schwaches Interview. Ein bisschen Historie u d viel man-weiss-es-nicht. Wieviele Experten reiben noch die Glaskugel? Und wozu? Wissensgewinn? Verständnis für die aktuelle Situation? Motiviert es Menschen, weltweit auf die Strasse zu gehen und ein Zeichen für Frieden und gewaltfreiheit zu setzen?
Es ist mit tausenden von meist zivilen Opfern zu rechnen. Mit noch mehr verletzten und verstümmelten Menschen. Mit der Vernichtung von Lebensgrundlagen, Existenzen.
Aber wir spielen mentale Kriegsspiele und lassen sich Experten Horrorszenarien zeichnen.
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