Dass der amerikanische Supreme Court aus neun Richtern besteht, die vom Präsidenten vorgeschlagen und vom Senat bestätigt werden müssen, ist auch in Deutschland vielen bekannt. Die ideologischen Grabenkämpfe um die Wahl neuer Richter erregen – zumal in Zeiten eines Präsidenten Trump – weltweite Aufmerksamkeit.
Wie gross ihr eigenes oberstes Gericht ist und wie über seine Zusammensetzung entschieden wird, dürften viele Deutsche weniger genau wissen. Das scheint sich nun zu ändern. Dass die Aufmerksamkeit dem Karlsruher Gericht guttut, ist allerdings eher unwahrscheinlich.
Wenn der Bundestag am Freitag drei der sechzehn Richter des Verfassungsgerichts neu wählt, geht eine Debatte zu Ende, die in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellos ist. Umstrittene Richter hat es zwar immer gegeben, doch nie wurde der Streit derart erbittert geführt. Das Sommerloch allein kann nicht der Grund dafür sein.
Entzündet hat sich der Unmut, der nicht zuletzt in den sozialen Medien zum Ausdruck kommt, an Frauke Brosius-Gersdorf. Die 54-jährige Professorin, die von den Sozialdemokraten als Verfassungsrichterin vorgeschlagen wurde, gilt manchen Konservativen als linke Aktivistin.
Vor etwa einem Jahr sagte die Juristin, ein Verbot der AfD wäre wünschenswert, sollte der Verfassungsschutz das nötige Material dafür beisammenhaben, doch wäre die Anhängerschaft der Partei damit «natürlich nicht beseitigt». Damit vergriff sie sich mindestens im Ton. Vor allem aber gibt nun zu reden, dass Brosius-Gersdorf der Meinung ist, das Lebensrecht gelte für ungeborene Kinder nicht im selben Mass wie für geborene. Damit weicht sie von der bisherigen Position des Gerichts ab.
Die Personalie stellt vor allem die beiden Unionsparteien CDU und CSU vor ein Problem: Als Regierungsparteien müssten sie den Vorschlag ihres sozialdemokratischen Koalitionspartners mittragen, doch manche Christdemokraten und Christsoziale meinen, ihre Parteien gäben damit eine Position auf, die Bestandteil ihres christlichen Wesenskerns sei.
Friedrich Merz, der christdemokratische Kanzler, hat sich am Mittwoch im Bundestag geäussert – und aus Sicht seiner Kritiker einen schweren Fehler begangen: Auf die Frage der katholisch-konservativen AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, eine Frau zu wählen, für die die Würde des Menschen erst dann gelte, wenn er geboren sei, antwortete der Kanzler schlicht mit «Ja».
Merz hätte auch antworten können, in dieser Frage anderer Ansicht zu sein als Brosius-Gersdorf, sie aber trotzdem als Richterin für geeignet zu halten. So aber räumte er aus Sicht seiner Gegner ein, der Schutz ungeborenen Lebens sei für ihn nicht wichtig. Er war damit in von Storchs Falle getappt.
Wie viele Abgeordnete der Union Brosius-Gersdorf am Freitag ihre Stimme verweigern werden, ist unklar. Dass sie durchfällt, gilt nach wie vor als unwahrscheinlich, doch sollte dies passieren, befände sich die Koalition von Union und SPD in ihrer ersten grossen Krise.
Interessant werden könnte auch die Wahl eines weiteren Kandidaten, des von der Union vorgeschlagenen Günter Spinner: Für die Kür der Richter im Bundestag braucht es nämlich eine Zweidrittelmehrheit, und auf eine solche kommen die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD längst nicht mehr. Sie brauchen dafür die Stimmen der Grünen und der Linkspartei.
Oder die der AfD, die Merz und seine Union gleich noch einmal in Verlegenheit bringen könnte: Sollte die Linke Spinner nämlich nicht wählen, könnten es die Rechtsradikalen sein, die ihm ins Amt verhelfen. «Na und, wo ist das Problem?», könnte ein Pragmatiker nun fragen, schliesslich kann man sich seine Wähler nicht aussuchen. Doch Pragmatismus und Gelassenheit sind im verkrampften Deutschland rare Güter – vor allem, wenn die AfD in irgendeiner Weise involviert ist.
Brosius-Gersdorf und Spinner sind nicht zu beneiden: Auch in der Bundesrepublik scheinen Richterwahlen allmählich zu einem der Schlachtfelder des grossen Kulturkampfs zu werden. In diesen wurden die beiden Juristen unversehens hineingezogen. Ansehen und Akzeptanz des Gerichts wird dies kaum zuträglich sein. (aargauerzeitung.ch)
Ja Moment: Ab wann gilt denn die Würde? Und gilt die Würde des Ungeborenen mehr als die der Mutter?
Es gibt keine absoluten Rechtsgüter, meiner Meinung nach.
Warum vergriff sie sich damit im Ton? Sie hat im Gegenteil das Problem auf den Punkt gebracht.