Der kleine Vlad trägt eine blaue Jacke, er hat die Kapuze übergezogen und seine Hände versinken in den Jackentaschen. Der Sechsjährige guckt traurig – er steht vor dem Grab seiner Mutter. Das Bild des Kindes aus dem ukrainischen Butscha ging um die Welt.
Vlads Mutter Ira ist eine von Tausenden Zivilistinnen und Zivilisten, die im Krieg getötet worden sind. Fotos zeigen, wie ihre Söhne Konserven an ihr Grab stellen. Medienberichten zufolge ist die Frau Anfang April an den Folgen von Hunger und Stress aufgrund der russischen Invasion gestorben.
Ukrainian brothers place food on mom's grave after she starved to death - New York Post https://t.co/nuxXoY2OgS— The USA Posts (@TheUSAposts) April 8, 2022
Vlad wächst nun ohne seine Mutter auf und teilt damit das Schicksal zahlreicher ukrainischer Kinder, die in den vergangenen sieben Wochen Verluste erlitten haben – oder andere verheerende Folgen des Ukraine-Kriegs zu spüren bekommen.
Die Zahlen sind alarmierend: Seit Beginn des russischen Einmarsches sind nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef mindestens 142 Kinder getötet worden. In Wirklichkeit dürften die Zahlen deutlich höher sein, so die Hilfsorganisation. Die Justiz in der Ukraine sprach am Dienstag von mindestens 186 getöteten und 344 verletzten Kindern und Jugendlichen.
Fast zwei Drittel aller ukrainischen Kinder mussten seit Ende Februar ihr Zuhause verlassen. 2.8 Millionen seien innerhalb des Landes vertrieben worden und zwei Millionen ins Ausland geflohen, sagte der Leiter der Nothilfeprogramme von Unicef, Manuel Fontaine. Das sei «einfach unglaublich».
Von den ukrainischen Kindern, die noch nicht auf der Flucht sind, sei fast die Hälfte von Hunger bedroht. Am schlimmsten sei die Situation in Städten wie Mariupol und Cherson, so Fontaine. Auch die Ehefrau des ukrainischen Präsidenten, Olena Selenska, sprach in einem BBC-Interview über das Leid der Kinder: Für viele gehe es ums Überleben.
Diese bedrückenden Schilderungen bestätigt auch Toby Fricker, der seit drei Wochen das Unicef-Team in der Ukraine verstärkt. Vor ein paar Tagen ist er aus Saporischschja und Dnipro nach Lwiw zurückgekehrt, dem Drehkreuz für die Unicef-Hilfe in der Ukraine. Dort kommen geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer aus den umkämpften Gebieten an. «Die Situation ist der Horror», sagt er zu t-online. «Es ist eine massive Tragödie, vor allem für die Frauen und Kinder.»
In der schwer belagerten Hafenstadt Mariupol müssen die Menschen seit Wochen in Kellern ausharren, um sich vor den Angriffen zu schützen. Immer noch warten Zehntausende Zivilisten auf eine Evakuierung – darunter auch viele Kinder. «Die Nahrung wird knapp und es gibt keinen Zugang zu sauberem Wasser», sagt Fricker. «Kinder leiden ganz besonders unter den Gräueln dieses Krieges.»
Mit Unicef sorgt Fricker dafür, dass die Kinder, die aus den umkämpften Städten fliehen, in Sicherheit sind – und dies auch spüren: «Sie können hier spielen und sich ausruhen.» Mütter oder andere Angehörige würden derweil dabei unterstützt, ihre Weiterreise oder das Leben an ihrem neuen, vorübergehenden Wohnort zu planen.
«Besonders tragisch ist, dass der Krieg für viele Kinder und Jugendliche bereits zur Normalität geworden ist», sagt Fricker. Ein 16-Jähriger habe ihm in Lwiw erzählt, dass er keine Angst mehr habe. «Sie gewöhnen sich an die Geräusche von Raketeneinschlägen und Bombenangriffen – denn sie sind immer gegenwärtig, jede Minute am Tag», so der Helfer.
Fricker sehe sowohl den Müttern als auch den Kindern den Schock an. Die meisten Frauen seien wegen ihrer Kinder geflohen, deren Sicherheit sei ihre höchste Priorität. «Manche Mütter erzählen ihren Kindern, dass sie einen Ausflug machen und dass es sich bei Raketen um ein Feuerwerk handelt», sagt der Helfer.
Andere Mütter würden ihre Kinder Verwandten oder sogar Fremden mitgeben, um sie aus den Kriegsgebieten in Sicherheit zu bringen. Wenn Kinder von ihren Familien getrennt werden und ohne Bezugsperson an Sammelpunkten für geflüchtete Menschen ankommen, sei es wichtig, so viele Informationen wie möglich über ihre Herkunft zu erhalten, sagt Fricker.
In diesem Zusammenhang sorgte in sozialen Medien ein Foto eines kleinen Mädchens für Aufmerksamkeit, auf dessen Rücken Kontaktdaten geschrieben worden sein sollen.
#Ukraine This is how Ukrainian parents leave the names and additional information about their children in case the parents are murdered pic.twitter.com/fh5tJyqV2T— Hanna Liubakova (@HannaLiubakova) April 5, 2022
Julian Erjautz hat die Folgen des Krieges für Kinder ebenso zu Gesicht bekommen: Er war zuletzt sechs Wochen lang als Nothilfekoordinator der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine und im polnischen Grenzgebiet unterwegs.
Er weist auf ein weiteres Problem hin: Wegen des Krieges wird es den Kindern wochen- oder sogar monatelang verwehrt, die Schule zu besuchen. Dabei sei der Unterricht ein entscheidender Faktor in der Entwicklung der Kinder. «Schule steht für soziale Interaktion und Bildung – aber in Zeiten des Krieges vor allem für Normalität», sagt Erjautz. Diese Normalität fehle derzeit Millionen Kindern. Nur wenige würden online unterrichtet.
Helfende wie Toby Fricker und Julian Erjautz erleben aber auch immer wieder Lichtblicke. «Der Zusammenhalt der ukrainischen Bevölkerung ist enorm», sagt Erjautz. Zuletzt habe er eine Familie in Lwiw getroffen, die bei der Grossmutter Zuflucht gesucht hätte. «Die Kinder haben sich gefreut, weil sie ihre Oma wegen der Pandemie zwei Jahre lang nicht gesehen haben. Nun sind sie bei ihr – wenn auch aus traurigen Gründen.»
Auch Fricker berichtet von der besonderen Verbundenheit der Ukrainerinnen und Ukrainer. Zudem sei die Unterstützung durch Spenden aus aller Welt immens. Dennoch sei es wichtig, so der Helfer, eines nicht zu vergessen: «Der Krieg wird andauern, der Hilfsbedarf wird nicht aufhören.»
Tod, Verletzung, seelische Wunden, Zerstörung: Die Grausamkeiten des Krieges haben verheerende Auswirkungen auf die Kinder. «Der Krieg schafft eine traumatisierte Generation», heisst es in einem Bericht der SOS- Kinderdörfer.
Die Folgen seien drastisch: «Die Kinder hören auf zu essen, sie können nicht schlafen», sagt Darya Kasjanova, Projektleiterin der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine und Vorsitzende des ukrainischen Netzwerks für Kinderrechte, in dem Bericht. Kleine Kinder, die angefangen haben zu sprechen, verstummten wieder, andere, die bereits aufs Töpfchen gegangen sind, hörten damit wieder auf. Bei manchen sei der ganze Körper verkrampft.
Traumata würden nicht nur durch Beschüsse und direkte Kriegserlebnisse verursacht, sondern auch durch den anhaltenden Hunger und Kälte, Vertreibung oder den Verlust des Zuhauses, berichtet Kasjanova.
Psychologen warnen davor, dass die Folgen langfristig anhalten können. Jörg Fegert, Kinder- und Jugendpsychiater an der Uniklinik Ulm, sagte dem SWR: «Manche Kinder entwickeln eine (...) Posttraumatische Belastungsstörung mit ausgeprägten Flashback-Erinnerungen, dass also etwas wie im Film wieder auftaucht.» Die Folgen könnten schwere Schlafstörungen sein. Andere Kinder könnten sich nach relativ kurzer Zeit aber wieder anpassen.
Wichtig ist nach Ansicht der Experten, den Kindern ein Gefühl von Normalität zu vermitteln und einen geregelten Alltag zu schaffen. Dazu gehöre beispielsweise ein Einschlaflied oder eine Gute-Nacht-Geschichte am Abend. Sie müssten zudem wissen, dass auch ihre Eltern oder Betreuungspersonen sicher sind, sagt Kasjanova von den SOS-Kinderdörfern. Das seien «absolute Mindestvoraussetzungen».
Und auch bei Jugendlichen ist Entlastung nötig. Sie seien in permanenter Angst: um ihr Leben, ihre Freunde und Familie, sagt Kasjanova. Sie hätten keine Perspektive und keinen Alltag. «Sie können nicht sagen: Morgen gehe ich mit meinen Freunden ins Kino.»
Aufgrund der massiven Folgen für die Kinder fordert Psychiater Fegert eine intensive therapeutische Betreuung von geflüchteten Kindern, die nach Deutschland kommen. Doch selbst mit einer Therapie, die die Verarbeitung des Erlebten unterstützen kann, bleibt am Ende eine traurige Erkenntnis: Millionen Kinder haben ihre Chance auf eine unbeschwerte Kindheit verloren.