«Der Westen berichtet, Russland stehe am Anfang eines Krieges. Aber es ist ja nicht das erste Mal, dass uns die amerikanische Elite verarscht», übersetzt Jenia den russischen Reporter. Es ist Sonntagnachmittag und wir sitzen bei mir zu Hause am Küchentisch. Mit ernstem Blick verfolgt sie die flackernden Bilder auf dem Laptopbildschirm. Es laufen die Nachrichten auf dem russischen Staatssender. Ihr Kinn auf der Hand abgestützt murmelt sie nachdenklich: «Wenn jemand diese Sendung etwas unaufmerksam schaut, bemerkt er gar nicht, was für krasse Propaganda das ist.»
Seit mehreren Tagen ist der Ukraine-Konflikt omnipräsent. Russische Truppen stehen an der Landesgrenze und die ganze Welt schaut hin. Ist das reine Provokation? Oder eskaliert die Situation demnächst?
Jenia beschäftigt den Konflikt in ihrem Heimatland. Sie kommt aus Mariupol, im Osten der Ukraine. Entschliesst sich Putin zur Invasion des Landes, würde es diese Stadt als eine der ersten treffen.
Als ich Jenia anrief, ob sie mit mir russische Nachrichten über den Ukraine-Konflikt schauen würde, meinte sie völlig entspannt: «Ja eh». Als hätte ich sie zum Eis-Essen eingeladen.
Die 25-Jährige wohnt in Zürich, im hippem Kreis drei. Wir kennen uns aus dem Studium, seit fünf Jahren sind wir befreundet. Bei politischen Diskussionen in der Gruppe hält sie sich oftmals zurück. Besonders wenn es um inländische Debatten geht, prescht sie nicht mit einer vorgefertigten Meinung vor. Sie fragt eher mal nach und versucht, die Argumente beider Seiten zu verstehen.
Anders ist es, wenn es um Russland geht. «F**k Putin», ist der Ausdruck, der mir in diesem Zusammenhang von ihr am deutlichsten geblieben ist. Und Hasstiraden über die «unmöglichen Zustände» dieses «noch unmöglicheren, Menschenrechts-verachtenden Menschen». An diesem Nachmittag stellte ich mich darauf ein, dass meine liebe Freundin in meiner Küche vor Wut explodieren wird. Doch es kommt anders.
Auf russischen Medien informiere sie sich nie, sagt Jenia. Ganz klar Propaganda sei das und die Medienschaffenden die Marionetten des Kremls. «Ich muss mich ja nicht unnötig aufregen.»
Den News-Beitrag, den wir uns als Erstes ansehen, finden wir auf «Russia Today» (RT). Dessen Ableger RT Deutsch sorgt hierzulande immer wieder für Schlagzeilen, wegen gezielter Falschinformationen. Jenia liest die kyrillischen Buchstaben halblaut vor. Der Artikel thematisiert, dass die westlichen Medien einen Krieg zwischen der Ukraine und Russland befürchten. Der russische Sicherheitsdienst bezeichnet das als «absolut lächerlich». Am Ende heisst es, die Ukraine ist schwach und die Europäische Union wird ihr keine Hilfe sein, selbst wenn es zum Krieg kommt.
«Komische Aufmachung», urteilt Jenia und schüttelt den Kopf. «Zum einen sagt Russia Today, es würde kein Krieg drohen, aber gleichzeitig wird erwähnt, dass die Ukraine eh machtlos wäre, würde Russland angreifen.»
Im Ressort «Welt» sind die aktuellsten vier Artikel dem Thema Ukraine gewidmet. «Etwas viel, wenn es doch gar keinen Krieg gibt», scherzt Jenia.
Für Jenia war Russland schon immer Thema. Sie kam im Jahr 1996 zur Welt, fünf Jahre zuvor zerbrach die Sowjetunion und die Ukraine wurde zu einem eigenständigen Land. Bald folgten die Massendemonstrationen für eine stärkere Integration in den Westen.
Jeder wollte in den Westen von Europa, erzählt Jenia. «Mit meinen Schulfreundinnen fantasierte ich darüber, wie es wäre, im Westen zu leben. Für uns war das der Ort, an dem du dir deine Träume erfüllen kannst.»
Ihre Eltern schickten sie in eine ukrainische Staatsschule. Es war die einzige in Mariupol, der Rest war russisch. «Auf dem Pausenhof durften wir kein Russisch sprechen, die Schule wollte die ukrainische Kultur und Sprache fördern.»
Russisch lernte sie wie eine Fremdsprache und gleichzeitig hörte Jenia sie täglich auf den Strassen und Bazaren Mariupols. Die Hafenstadt am Asowschen Meer lebt vom Handel. Ausserdem liegt die Landesgrenze zu Russland bloss eine Autofahrtstunde entfernt. «Mit Russisch kommst du einfach besser durch», sagt Jenia.
Als 9-Jährige zog sie mit ihrer Familie an den Zürichsee, nach Thalwil. Es gab Jobs und bessere Bildung. Eine grossartige Chance sei das gewesen. «Wenn mich die Leute fragen, ob meine Familie wegen des Geldes in die Schweiz gekommen ist, antworte ich: ‹Natürlich. Was denkst du denn, wegen der Berge?›»
Russische Nachrichtenkanäle konsumiert Jenia kaum. Eine Sendung kennt sie allerdings: Dmitry Kiselyov's «Vesti Nedeli», übersetzt Wochennews. Sie läuft im russischen Staatsfernsehen und gilt als Flaggschiff der politischen Nachrichten.
Das Nachrichtenvideo vom Vortag trägt übersetzt den Titel «Biden erzwingt russische Invasions-Fantasie». Es geht um die Gespräche zwischen dem US-Präsidenten und seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenski. Der russische Reporter mit rotem Schlips steht vor dem weissen Haus in Washington und erklärt, wie die westlichen Mächte und deren Medien einen Krieg prophezeien: «(Westliche) Journalisten fantasieren, wie sie das Thema Ukraine noch mehr betonen könnten.» Ähnlich wie der RT-Artikel endet auch dieser News-Beitrag mit der Aussage, dass die Ukraine schwach sei. Und er setzt noch einen drauf: Die Ukraine würde vom Westen Geld und Waffen erhalten, was sie nicht zugeben.
Jenia sagt fast schon respektvoll: «Sie machen das sehr geschickt. Sie sagen nicht, der ukrainische Präsident würde lügen oder hätte böse Absichten. Sie verpacken die Kritik sehr unterschwellig.»
Ob sie das nicht wütend mache, beantwortet Jenia mit einem Schulterzucken. «Seit 2014 heisst es, Russland würde invadieren. Irgendwann schockiert es dich nicht mehr.»
Bald acht Jahre dauert der Krieg im ostukrainischen Donezk und Luhansk schon an. Die Gebiete im Donbass sind besetzt von prorussischen Separatisten, sie bekämpfen dort mit Unterstützung des russischen Militärs die ukrainische Armee. Nach Angaben der Vereinten Nationen kostete der Konflikt über 13'000 Menschen das Leben.
Seit Ausbruch des Krieges war Jenia ein Mal in ihrer Heimatstadt, für das Begräbnis ihrer Grossmutter im Jahr 2015. Damals war der Flughafen in Donezk bereits zerbombt. So musste Jenia mit ihren Eltern nach Kiew fliegen und von dort aus während 12 Stunden nach Mariupol fahren. Der Zug kam nicht in Frage. «Es bestand die Gefahr, dass Bomben an den Gleisen angebracht waren.» Alles wurde von der ukrainischen Armee kontrolliert. Bei der Beerdigung musste die Familie ihre Pässe zeigen, um zu beweisen, dass sie keine Separatisten waren. «Sogar den Sarg von meiner Babuschka haben sie geöffnet. Sie wollten prüfen, dass wir keine Waffen darin versteckt hatten.»
Sie fürchtet, dass es ihre Heimatstadt irgendwann nicht mehr geben wird. «Bereits jetzt ist die Distanz zu meiner Herkunft sehr gross geworden.»
Am Sonntagabend, Jenia ist bereits nach Hause gegangen, kommt Dmitry Kiselyov's Wochensendung im russischen Staatsfernsehen. Ich frage, ob sie sich das ansehen könne. Zugang erhält man nur, wenn man die Handynummer angibt. «Ja eh», sagt sie. Ihr sei das egal.
Kurz darauf schreibt sie mir, es gehe im Fernsehbeitrag plötzlich um Krieg. In Kiew seien amerikanische Flugzeuge gelandet, mit Waffen und militärischen Ausrüstungen. Es heisst, die Menschen im Donbass haben Angst vor den ukrainischen und amerikanischen Truppen, dass sie jeden Moment kommen und alles zerstörten würden.
Das Narrativ hat plötzlich gewechselt. Aus «die westlichen Medien propagieren Krieg», wurde «der Westen bedroht uns». Ein neues, gefährliches Dogma? Jenias Reaktion könnte nicht unaufgeregter sein. In einer Sprachnachricht sagt sie: «Solche Nachrichten schockieren mich nicht mehr. Aber sie tun weh.»