Um die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel war es nach ihrem Amtsaustritt zuletzt ruhig geworden. Am Dienstag hatte die CDU-Politikerin nun ihren ersten grösseren medialen Auftritt als Ex-Kanzlerin. In einem Interview mit «Spiegel»-Reporter Alexander Osang, der sie mehrfach porträtiert hatte, gab Merkel Auskunft in ihr Leben und ihre politische Karriere – auch zu Russland, das sie während ihrer 16-jährigen Amtszeit vehement verteidigt hatte.
Merkel verurteilte den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine scharf. «Das ist ein brutaler, das Völkerrecht missachtender Überfall, für den es keine Entschuldigung gibt.» Der Angriff sei von Russlands Seite ein grosser Fehler. Es sei nicht gelungen, eine Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die den Krieg verhindert hätte, sagte Merkel. Es sei nicht gelungen, den Kalten Krieg zu beenden.
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Die Vorwürfe, sie sei während ihrer Amtszeit zu nahe bei Russland gewesen, wies Merkel entschieden von sich. Sie sei nicht «blauäugig» im Umgang mit Russland gewesen, sagte sie. Und führte dann weiter aus: «Diplomatie ist ja nicht, wenn sie nicht gelingt, deshalb falsch gewesen. Also ich sehe nicht, dass ich da jetzt sagen müsste: Das war falsch, und werde deshalb auch mich nicht entschuldigen.»
Merkel räumte ein, dass man der Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim durch Russland 2014 zwar härter hätte begegnen können. Man könne aber auch nicht sagen, dass damals nichts gemacht worden sei. Sie verwies auf den Ausschluss Russlands aus der Gruppe führender Industrienationen (G8) und den Beschluss der Nato, dass jedes Land zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben soll.
Merkel betonte zudem, das Abkommen von Minsk II im Jahr 2015 sei äusserst wichtig für die Situation in Osteuropa gewesen. Ohne dieses Abkommen, so Merkel, wäre Putin wohl früher in die Ukraine einmarschiert und hätte womöglich noch grösseren Schaden anrichten können als heute. «Diese sieben Jahre waren für die Ukraine ganz wichtig», ist sie überzeugt. Allerdings sei ihr gegen Ende ihrer Zeit als Kanzlerin bewusst geworden, dass Putin dieses nicht mehr respektieren werde, sagte sie: «In den letzten Monaten meines Amtsjahres war klar, dass er damit im Grunde abgeschlossen hatte.»
Merkel machte aber deutlich, es sei im Interesse Deutschlands, einen «modus vivendi» mit Russland zu finden – so, dass beide Länder koexistieren könnten. Um eine Vermittlung in dem Konflikt sei sie nicht gefragt worden, sagte die ehemalige Kanzlerin. Und: «Ich habe nicht den Eindruck, dass das im Augenblick etwas nützt.» Es gebe aus ihrer Sicht «wenig zu besprechen».
Auch dass sie sich 2008 gegen eine Nato-Osterweiterung um die Ukraine und Georgien gewandt habe, verteidigte Merkel. Hätte die Nato den beiden Ländern damals eine Beitrittsperspektive gegeben, hätte Putin schon damals einen «Riesenschaden in der Ukraine anrichten können», sagte sie. Vor allem, da sie damals noch nicht in der Lage gewesen sei, diesen Widerstand zu leisten, welchen sie derzeit an den Tag lege. Merkel sagte, sei beeindruckt und habe allergrösste Hochachtung vor Präsident Selenskyj und den Ukrainern.
Merkel argumentierte zudem, dass die Ukraine damals noch ein anderes Land gewesen sei – «nicht die Ukraine, wie wir sie heute kennen.» Zu diesem Zeitpunkt sei das Land noch gespalten, «demokratisch nicht gefestigt» und «von Oligarchen beherrscht» gewesen.
Es sei so, «dass ich mir nicht vorwerfen muss, ich hab es zu wenig versucht», sagte Merkel zu der Frage, inwieweit sie dazu beitragen konnte, eine Eskalation mit Russland zu verhindern. «Ich habe es glücklicherweise ausreichend versucht. Es ist eine grosse Trauer, dass es nicht gelungen ist.»
Merkel wurde immer wieder ein guter Draht zu Wladimir Putin nachgesagt – die Ex-Kanzlerin spricht Russisch, der Kreml-Chef fliessend Deutsch. Sie habe allerdings nie ein freundschaftliches Verhältnis zu Putin gehabt, stellte Merkel klar. So gab sie mehrere Einblicke in ihre Gespräche, die mit ihm während ihrer Amtszeit geführt hatte.
Merkel sagte etwa, für Putin sei der Zerfall der Sowjetunion die schlimmste Sache des 20. Jahrhunderts gewesen – das habe er ihr gegenüber mehrfach geäussert. Merkel sagte, sie habe entgegnet, für sie sei das ein Glück gewesen. Zudem erklärte sie: «Putin hält die Demokratie für falsch.» So richte sich seine Feindschaft gegen das westliche demokratische Modell. Sein Ziel sei es, die EU zu zerstören, da er diese als «Vorstufe zur Nato» betrachte.
Merkel ist aber trotz allem der Meinung, dass Putin rational handle. «Ich sehe eine kontinuierliche Linie», sagte sie. «Und bei dieser hat er immer mehr Grenzüberschreitungen gemacht.» Daher würde sie auch eine Verstärkung der militärischen Abschreckung gegenüber Russland unterstützen. «Das ist die einzige Sprache, die Putin versteht», sagte Merkel.
Sie habe «volles Vertrauen» in die neue Bundesregierung und ihren Amtsnachfolger Scholz, machte Merkel deutlich. Es seien Menschen am Werk, die keine «Newcomer» seien und die Gegebenheiten kennen würden.
Merkel war von 2005 bis Ende 2021 Kanzlerin. Es sei für sie ganz klar, dass es der richtige Zeitpunkt gewesen sei, aufzuhören. Merkel hatte für Aufsehen gesorgt, als sie Scholz während der Koalitionsverhandlungen über die Bildung einer Ampel mit zu einem internationalen Gipfeltreffen genommen hatte.
Im Sommer 2019 häuften sich die Schlagzeilen um die Gesundheit Merkels, da die damalige Kanzlerin bei öffentlichen Auftritten immer wieder Zitter-Anfälle hatte. Der Grund dafür sei gewesen, dass sie der Tod ihrer Mutter in diesem Jahr «schon sehr erschöpft» habe. Zudem habe sie in dieser Zeit zu wenig getrunken.
Die Ex-Kanzlerin verriet zudem, dass ihr diese Meldungen auch zugesetzt hatten. «Ich hatte auch Angst, dass wieder eine solche Situation zutage tritt», sagte sie. So habe sie es als «belastend» empfunden, dass stets Kameras auf sie gerichtet gewesen seien.
Ihr persönlich gehe es sehr gut, aber die «Zäsur» des russischen Kriegs gegen die Ukraine beschäftige sie sehr, sagte Merkel. Sie sei manchmal bedrückt. Merkel erzählte von langen Wanderungen im Winter an der Ostsee, sie habe viele Podcasts gehört. Ihr sei nicht langweilig geworden, sie habe die Tage richtig gut rum bekommen. Früher habe sie nur «Termine, Termine, Termine» gehabt.
Ratschläge von der Seitenlinie wolle sie nicht geben, sagte Merkel – ob das 9-Euro-Ticket nun gut sei oder nicht. «Ich bin Bundeskanzlerin a. D.», sagte die 67-Jährige. Sie sei keine «ganz normale Bürgerin». 16 Jahre lang sei alles, was irgendwie von Relevanz gewesen sei, an ihrem Tisch vorbeigekommen. Sie habe sich nie um Verantwortung gedrückt. Sie habe gesagt, dass sie sich erst einmal erholen und Abstand gewinnen wolle.
Sie bekomme viele Einladungen, wolle aber nicht nur Termine abarbeiten. Wenn sie lese, sie mache nur noch «Wohlfühltermine», dann sage sie: «Ja.»
(dab/sda/dpa)
Genau solche Vorkommnisse wie der 2008-er NATO-Gipfel von Bukarest werden ebenfalls in die Gesamtbeurteilung von Merkels Wirken eingehen.