Celine stammt aus einer türkisch-schweizerischen Familie. Ihre Mutter ist Schweizerin, der Vater ist ein in der Türkei aufgewachsener Kurde. Ein Grossteil ihrer Familie lebt in der Provinz Kahramanmaraş, etwa 100 Kilometer nördlich der syrischen Grenze. An jenem Ort, der als Epizentrum der Erdbeben gemeldet wurde.
Die Mehrheit ihrer Familienangehörigen überlebte die Beben. Für ihren Onkel, ihre Tante und deren Sohn kam jede Hilfe zu spät. Das Ehepaar und das gemeinsame Kind konnten nicht lebendig aus den Trümmern geborgen werden. Das Erdbeben nahm ihnen das Leben.
Die Familie trauert. Die Angehörigen in der Türkei haben alles verloren. Ein Dach über dem Kopf. Ihr Hab und Gut. Einen Teil der Familie.
Um Abschied zu nehmen und um die Verwandtschaft zu unterstützen, entschied sich Celine gemeinsam mit ihrer Familie in die Türkei zu reisen – ins Katastrophengebiet.
Da der Flughafen der Provinz für zivile Luftfahrt geschlossen wurde, bricht die Familie am Abend des 7. Februars – einen Tag nach den ersten Beben – mit einem Minibus und einem Auto in die Türkei auf.
Eine ungewisse Reise beginnt.
Seit mehr als 40 Stunden sind Celine und ihre Familie im Auto in Richtung Heimat unterwegs. Die zweite Heimat, wie sie Celine kennt, wie sie sie in Erinnerung hat, wird sie dort nicht mehr vorfinden. Die Provinz liegt in Trümmern.
Den Menschen vor Ort fehlt es an allem: warmer Kleidung, Essen, Übernachtungsmöglichkeiten. Die Temperaturen liegen in der Nacht zwischen −3 und −5 Grad.
«Als wir von den Todesfällen in der Familie gehört haben, sind wir innerhalb von fünf Stunden in die Türkei aufgebrochen», sagt Celine. In den wenigen Stunden deckte sich die Familie mit Hilfsgütern ein, die sie vor Ort verteilen will.
«Wir hatten kaum Zeit, um uns Gedanken darüber zu machen, was uns erwarten wird. Mit der Beerdigung meiner Familienmitglieder konnte nicht lange gewartet werden, da ein Leichnam ohne Kühlung nicht lange aufbewahrt werden kann», sagt Celine.
Die Fahrt lief bislang reibungslos, in fünf Stunden erreicht die Familie das Epizentrum. Der schwierigste Abschnitt steht noch bevor: «Die Strassen unserer Heimat sind zerstört. Doch es soll zwei Wege geben, um die Provinz zu erreichen.»
Die ersten Folgen des Bebens bemerkte die Familie bereits in Nurdağı – rund 50 Kilometer vom Epizentrum der Beben entfernt. An zahlreichen Tankstellen sei das Benzin ausgegangen.
«Wir wissen nicht, was auf uns zukommt, aber wir müssen unsere Familie und die Menschen vor Ort unterstützen», sagt Celine. Die 22-Jährige ist diplomierte Pflegefachfrau und arbeitet in einer Klinik. Infusionen verabreichen, Wunden pflegen und Menschen verarzten kann die junge Frau. «Aufgrund meines Berufes konnte ich viele medizinische Güter mitnehmen. Mein Umfeld hat mich dabei unterstützt.»
Doch ob sie der Aufgabe vor Ort gewachsen ist, kann sie noch nicht abschätzen. Die Familie will mindestens eineinhalb bis zwei Wochen auf der Strasse leben. «Es gibt keine warmen Räume. Keine Toiletten. Keine Lebensmittel, die gekauft werden können», so Celine. «Die Umstellung wird wohl sehr hart sein.»
Ihr Arbeitgeber habe ihr einen zweiwöchigen unbezahlten Urlaub gewährt. Falls es eine Organisation vor Ort gibt, der sie sich anschliessen kann, werde sie dies tun. Erst wolle sie aber für ihre Familie da sein, die offenbar lange auf Hilfe warten musste.
«Meine Familie lebt in einer kurdischen Stadt. Die Hilfe erfolgte dort sehr spät. Erst drei Tage nach den ersten Beben haben erste Hilfsgüter die Provinz erreicht. Wir haben gedacht, dass dies geschehen wird. Das war auch ein Grund, warum wir uns entschieden haben, dorthin zu reisen.»
Je näher Celine und ihre Familie dem Krisengebiet kommen, desto beschädigter sind die Strassen. Doch die Familie erreicht die Stadt Pazarcık trotz der vielen Risse und Schlaglöcher. Rechtzeitig zur Beerdigung schafft es die Familie nicht. Das trifft insbesondere den Grossvater: Er konnte nicht dabei sein, als sein Bruder begraben wurde.
Ihre Heimat gleiche einer Geisterstadt, berichtet Celine. «Die Strassen sind ausgestorben. Die Menschen leben zusammengepfercht in kleinen Zelten, die sie sich selbst zusammengebaut haben. Man kann nichts einkaufen. Viele Menschen liegen noch immer unter den Trümmern. Uns ist klar, dass sie alle ihr Leben verloren haben.»
Celine habe viele Menschen getroffen, die dringend Unterstützung bräuchten – vor allem psychische. «Fremde Menschen nahmen mich in den Arm und weinten. Man spürte, dass ihnen so eine kleine Last von den Schultern fiel. Ihnen wurde bewusst, dass sie diese schwere Zeit nicht alleine durchmachen müssen.»
Celine verteilt Medikamente und verarztet eine Kopfwunde. Mehr medizinische Hilfe muss sie nicht leisten, ein Ärzteteam befindet sich in der Nähe der Provinz. «Es sind allerdings viele Menschen mit Schmerzen und Angst auf mich zugekommen. Diese Personen haben Medikamente von mir erhalten.»
Mitgenommen hat die Baslerin auch Tierfutter, das sie auf die verlassenen Strassen streut. «Tiere sind für mich genauso wichtig wie Menschen. Mir war von Beginn an klar, dass ich auch ihnen helfen muss.»
Man spüre, dass die Spenden langsam ankommen. Am meisten benötigt werden vor Ort aber noch immer Zelte, Totentücher sowie Unterkünfte. Weil es an Schlafplätzen fehlt, übernachtet die Familie im Minibus.
Sie fühlen sich fremd in ihrer Heimat. Und fehlt an Platz.
Nach nur einem Tag neigen sich die ganzen Spenden aus dem Kofferraum des Autos und des Minibusses der Familie dem Ende zu. Die kurdische Familie sowie die Menschen seien gerührt gewesen ob dem Mut, ins Katastrophengebiet zu reisen.
Doch sie machen sich auch grosse Sorgen. Immer wieder kommt es zu Nachbeben. Die Familie erlebt mehrere Nachbeben – eines der Stärke 4,5. «Das war ziemlich erschreckend», so Celine. «Es veranlasste uns dazu, unsere Pläne nicht weiterzuverfolgen und wieder in die Schweiz aufzubrechen.»
Celine verlässt ihre Familie vor allem mit einer Sorge: «Die Spenden werden wohl nicht ausreichen, um die komplett zerstörte Stadt wieder aufzubauen. Und irgendwann wird keiner mehr an das Erdbeben denken.»
Ein neues Leben in der Schweiz beginnen – das ist für die in der Türkei lebenden Familienmitglieder keine Option. Ihnen steht eine ungewisse Zukunft bevor.